„Bildung ermöglicht dir Freiheit“ – ein Brief an meine Mutter
7. März 2023 | Gender und Sexualität, Geschichte, Biografien und Erinnerung

Symbolbild; Auszubildende aus Vietnam in Plauen. Bild: Wikimedia Commons

Die Geschichte der vietnamesischen Vertragsarbeiter*innen in der DDR ist eine der unbekannteren unter den vielen Geschichten der Arbeitsmigration. Die Mutter unserer Autorin kam 1987 als Vertragsarbeiterin in die DDR und fand Arbeit in einem volkseigenen Textilbetrieb. In einem Brief blickt ihre Tochter auf die Lebensgeschichte ihrer Mutter zurück und fragt sich, was Feminismus für sie bedeuten kann.

Liebe Mutter,

im Jahr 1980 herrscht in der DDR ein hoher Bedarf an Arbeitskräften. Daher wird zwischen der DDR und der Sozialistischen Republik Vietnam ein Abkommen geschlossen: Junge Arbeitskräfte aus den sozialistischen Ländern des Globalen Südens, den sogenannten „Bruderstaaten“, können zeitlich befristet in der DDR arbeiten.

Als du 1987 mit 23 Jahren zum ersten Mal in deinem Leben in einem Flugzeug nach Ost-Berlin saßt, wusste du noch nicht, was dich erwartete. In Leipzig angekommen, durftest du als vietnamesische Vertragsarbeiterin in einem Textil-VEB arbeiten. „Dürfen“, da es während der wirtschaftlich schwierigen Situation in Nachkriegsvietnam als großes Privileg galt, im Ausland Geld verdienen zu können, um seine Familie zu unterstützen.

Begegnungen mit der Weißen DDR-Bevölkerung waren vom SED-Regime nicht gewünscht und wurden im Alltag unterbunden. Ein zweiwöchiger Sprachkurs für die grundlegende Alltagskommunikation mit VEB-Vorgesetzten sollte genügen.

Im Zuge deines Aufenthaltes musstest du dich verpflichten, keine Heimreisen nach Vietnam zu unternehmen – erst 1994, sieben Jahre nach deiner Ausreise, sahst du deine Familie zum ersten Mal wieder. Ich kann mir nicht mal vorstellen, wie sich das anfühlt, du konntest ja nicht mal videotelefonieren. Die Briefe von der Familie aus dieser Zeit bewahrst du bis heute wie einen Schatz.

Grundsätzlich redest du nicht gerne über die Zeit in der DDR und die Anfangsjahre nach der Wende und antwortest ausweichend: „Wozu in die Vergangenheit schauen? Wir müssen in die Zukunft blicken.“

Jedoch gibt es keine Zukunft ohne die Vergangenheit. Als ich mich in meinem Studium mit der Geschichte von DDR-Vertragsarbeiter*innen auseinandersetzte, wollte ich dein Schweigen besser verstehen. Die von DDR-Vertragsarbeiter*innen verrichtete Lohnarbeit war prekär, gefährlich und daher bei der Weißen DDR-Bevölkerung nicht beliebt. Leipzig, Bitterfeld-Wolfen oder Lutherstadt waren in der DDR dafür bekannt, giftige Umweltbelastungen zu verursachen. Da du in einem Textil-VEB tätig warst, warst du sicherlich chemischen Dämpfen ausgesetzt. Du hast dich darüber nie beklagt.

Während deiner Zeit in Ostdeutschland lerntest du meinen Vater kennen, mit dem du nach der Wende in den Westen zogst. Ihr habt euch unter widrigen Bedingungen Bleiberechte erkämpft und 1994 die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten. Mit der Staatsbürgerschaft erfüllten sich jedoch nicht unbedingt deine Lebensziele, wie du bald feststelltest. Du konntest Parteien wählen, aber nicht deine soziale Klasse.

Du hast verschiedene Tätigkeiten im Niedriglohnsektor aufgenommen, damit du nicht dir, sondern uns Kindern Bildung finanzieren konntest. Zwar sind der Schulbesuch und das Studium in Deutschland kostenlos, Nachhilfe, Klassenfahrten oder Literatur hingegen nicht. „Bildung ermöglicht dir Freiheit“, sagtest du mir. Dein Leben lang hast du hart für die Freiheit anderer gearbeitet. Ich wünschte mir, dass du selbst auch ein Stück vom großen Kuchen probieren könntest.

Als du vor einigen Jahren in einer großen Modekette als Reinigungskraft gearbeitet hast, habe ich die Tassen mit der Aufschrift „Feminist“ bemerkt, die dort verkauft wurden. Ich finde es absurd, sich mit politischen Kampfbegriffen zu schmücken, während die Löhne in der Firma niedrig bleiben.

Feminismus meint nicht nur das Ende des Gender Pay Gaps oder die Sichtbarkeit von Frauen in Führungspositionen. Feminismus muss auch Frauen mitdenken, die in „unsichtbaren“ Berufen arbeiten. Die Karrieren mancher Frauen sind erst durch die Care-Arbeit anderer weniger privilegierter Frauen möglich geworden. Dazu gehört auch deine Arbeit, die mir mein heutiges Leben erst möglich gemacht hat.

Deine Tochter

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