Auf Spurensuche im Kiez und in der Familie – Ein Gespräch über Zwischentöne aus der kiez:story-Projektausstellung
24. November 2021 | Geschichte, Biografien und Erinnerung, Jugendkulturen und Soziale Medien

Das ufuq.de-Modellprojekt kiez:story veröffentlichte im September 2021 die künstlerischen Arbeiten von Jugendlichen aus vier Berliner Schul-AGs. Interviews, Fotos und Videos dokumentieren die eindrücklichen Geschichten aus dem familiären Umfeld der Schüler*innen und zeigen ihre persönlichen Lieblingsorte. ufuq.de-Mitarbeiterin Thy Le hat Projektleiter Pierre Asisi anlässlich der Projektausstellung in Kreuzberg interviewt.

Im September 2021 lud kiez:story in den Räumlichkeiten des West Germany in Berlin-Kreuzberg zur Projektausstellung ein. Auf der Dachterrasse sieht man die Bahn der Linie U1 vorbeiziehen, während Soul-Musik läuft und der Geruch von Merguez vom Grill umherfliegt. ufuq.de-Mitarbeiter und kiez:story-Projektleiter Pierre Asisi führt mich durch die Ausstellungsräume: An den Wänden sind Graffiti und verschiedene Dokumentationen in Form von Fotos, Videos und Interviews ausgestellt, die Jugendliche in AGs an vier Berliner Schulen realisiert haben. Mithilfe von QR-Codes kann man sich die Interviews in voller Länge ansehen. Kurz vor der Videopremiere aus der Serie Meine Story entstand dieses Interview.

Thy Le: Kannst du das Modellprojekt kiez:story vorstellen? Was macht ihr da?

Pierre Asisi: kiez:story geht zurück auf einen Wunsch, der im gesamten Team von ufuq.de gewachsen ist, nämlich etwas zu Neuer Deutscher Geschichte zu machen bzw. zu migrantischen Perspektiven auf Deutsche Geschichte. kiez:story wird vor allen Dingen im Rahmen von AGs an Schulen umgesetzt. Wir begleiten Schüler*innengruppen über das gesamte Schuljahr hinweg. Das große Ziel ist, dass die Jugendlichen sich in ihrem sozialen Umfeld auf Spurensuche machen: Interviews führen und dokumentieren, Fotos schießen. Letztendlich wollen wir die ganzen Ergebnisse sowohl online als auch in einer Ausstellung sichtbar machen. Eigentlich ist die unmittelbare Zusammenarbeit mit Jugendlichen jedoch die Hauptaufgabe. Natürlich hatten wir im letzten Jahr coronabedingt Probleme, das in der geplanten Form umzusetzen, weil die meisten AGs ausgefallen sind. Dadurch mussten wir flexibel bleiben. Wir haben stattdessen kleine Projekte umgesetzt und dazu viele Videos produziert, was ursprünglich nicht vorgesehen war.

Le: Kannst du berichten, was in den AGs so passiert? Wie kann ich mir die Arbeit der Teamer*innen konkret vorstellen?

Asisi: Es laufen gerade zum ersten Mal die AGs wirklich konstant an den vier Berliner Schulen an. Durch die coronabedingten Schulausfälle hatten wir nie stabile Gruppengrößen und Klassen. Dieses Jahr zeichnet sich ab, dass ein ganz anderes Arbeiten möglich ist. Anfangs versuchen wir, über niedrigschwellige Themen ins Gespräch zu kommen. In den ersten Einheiten wird z.B. „mein Ort“ vorgestellt. Die Jugendlichen haben die Möglichkeit, ihre eigenen Orte vorzustellen. Wieso feiern sie die Orte? Was würden sie sich für diese Orte wünschen? Diese Videoreihe verlangt auch den Teamer*innen Einiges ab. Wir wollen, dass die Jugendlichen sich öffnen. Das wird erleichtert, wenn die Teamer*innen mit den eigenen Geschichten in die Klassen hineinkommen. Im Moment finden auch sehr viele Exkursionen im Rahmen der AGs statt. Wir waren zum Beispiel kürzlich mit Schülern und Schülerinnen der Walter-Gropius-Schule mit dem Rapper Luvre47 in der Neuköllner Gropiusstadt unterwegs. Unser Ziel ist es, für Exkursionen ein zugeschnittenes Angebot für jede Schule mit ihrem spezifischen Umfeld machen zu können. Schließlich sind die Wunschthemen in den Klassen unterschiedlich. Wir probieren, erst einmal herauszufinden, was die Schüler*innen wirklich interessiert, und auch immer einen Kiezbezug herzustellen. Was findet tatsächlich im Umfeld der Schule statt? An der Lina Morgenstern-Schule in Kreuzberg ist z.B. Gentrifizierung ein vielbesprochenes Thema. Damit können die Jugendlichen wegen ihrer Erfahrungen viel anfangen. Begriffe wie Gentrifizierung wollen wir in den AGs möglichst einfach vermitteln. Das kann in Form von Exkursionen und mit Aktivist*innen sein, die darüber sprechen, wie sich die Gegend verändert hat. Wir wollen es möglichst interessant für die Jugendlichen gestalten. Im Grunde wünschen wir uns, dass die Jugendlichen bei den Exkursionen Spaß haben und sich in einem kleinen Rahmen verwirklichen können.

Le: Was beschäftigt die Jugendlichen noch?

Asisi: Das kann ich nicht verallgemeinernd beantworten. In der kleinen, intensiven Videoreihe Meine Story haben fünf Jugendliche Interviews mit Familienmitgliedern geführt, zum Beispiel mit der Großmutter oder dem Vater. Dabei ging es viel um Migration und Ankommen. Damit einhergehend, ohne dass es als Begriff gefallen wäre, ging es natürlich auch um Rassismus und andere Schwierigkeiten des Ankommens in Deutschland. Es war interessant, wie auf diese Weise die Wünsche der älteren Generation zur Sprache kamen. Das sind auf jeden Fall sehr schöne Interviews, die entstanden sind. Die Dokumentarfilmerin Thain Ngyuen und ihre Schwester Thúy haben das Projekt filmisch und pädagogisch begleitet. Das neueste Video feiert heute bei der Ausstellung seine Premiere.

Le: Was hat euch in der bisherigen Projektlaufzeit noch überrascht?

Asisi: An Meine Story hat mich wie gesagt wirklich überrascht, wie intensiv die Jugendlichen in einem Ferienprojekt gearbeitet haben. Wir möchten sie animieren, sich durch kiez:story zu präsentieren. Aber wir akzeptieren es, wenn jemand das nicht möchte. Das fanden wir interessant – wenn Jugendliche nicht auf Fotos erscheinen möchten, kann das auch für kritische Medienkompetenz sprechen. Es hat mich enorm überrascht, wie oft die Jugendlichen lieber hinter der Kamera als vor ihr stehen.

Le: Was plant ihr für das kommende Jahr?

Asisi: Ich wünsche mir natürlich, das Projekt kiez:story aus der Modellprojektphase in eine Regelstruktur zu bringen. Auch wenn ich jetzt merke, dass wir da durch die Corona-Einschränkungen noch ein bisschen mehr Modellprojektphase benötigen als wir geplant hatten. Einen positiven Aspekt durch die Pandemie gibt es. Wir haben mehr Output in Social Media und in Videos geliefert als ursprünglich gedacht. Checkt gerne unseren Instagram-Account aus, um ein bisschen auf dem Laufenden zu bleiben, wie das Projekt umgesetzt wird.

Le: Danke für das Interview!


Informationen zum Projekt

kiez:story-Webseite

kiez:story auf Instagram

Videoreihe „mein Ort“ von kiez:story

Videoreihe „meine Story“  von kiez:story

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