„Antisemitismus von allen Seiten“ – Perspektiven von Betroffenen auf die Bedrohungslage in Deutschland
11. Mai 2023 | Diversität und Diskriminierung, Radikalisierung und Prävention, Religion und Religiosität

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In Folge #15 von KN:IX talks sprechen wir mit dem Sozialwissenschaftler Niklas Herrberg über ein Forschungsprojekt, in dem er der Perspektive von Betroffenen von Antisemitismus in Deutschland nachgeht. Welche Formen von Antisemitismus erleben sie, in welchen Situationen tritt er auf – und durch wen?

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Das Deutsche Jugendinstitut (DJI) begleitet die Aktivitäten der Kompetenzzentren und Kompetenznetzwerke im Bundesprogramm Demokratie leben! des BMFSFJ wissenschaftlich. Zu den nächsten drei Folgen von KN:IX talks findet diesbezüglich eine Resonanzerhebung statt. Wir freuen uns, wenn Sie sich 5 Minuten für das Feedback nehmen. Hier kommen Sie zur Umfrage.

Das Kompetenznetzwerk „Islamistischer Extremismus“ (KN:IX) ist ein Bündnis der drei Träger Bundesarbeitsgemeinschaft religiös begründeter Extremismus (BAG RelEx)Violence Prevention Network sowie ufuq.de. Gemeinsam wurde der Podcast KN:IX talks 2021 ins Leben gerufen, um unterschiedlichen Fragen der Präventions- und Distanzierungsarbeit in Deutschland und international Raum zu geben. In verschiedenen Staffeln zu einem Oberthema interviewt KN:IX verschiedene interessante Akteur*innen und Expert*innen der Präventionsarbeit. Zuhörer*innen erhalten in den bis zu 45-minütigen Folgen vielfältige Praxiseinblicke in diverse Bereiche der Islamismusprävention sowie deren Methoden und Ansätze. Für ufuq.de verantwortet Thy Le den Podcast.

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Transkription der Folge

Thy Le:

Wir haben es in der letzten Folge KN:IX talks schon gehört: Die antisemitischen Straftaten nehmen zu und das reicht von Beleidigung bis hin zu physischer Gewalt. Antisemitismus ist im Alltag allgegenwärtig. Die letzten beiden Folgen unserer Staffel zum Thema Antisemitismus haben sich bereits mit zwei besonderen Fragen beschäftigt. In einer Folge ging es um christlichen Antisemitismus und in der anderen um das Verhältnis von antimuslimischem Rassismus und Antisemitismus. In dieser Folge möchte ich, Thy Le von ufuq.de, wissen: Wie nehmen eigentlich Betroffene den Antisemitismus in Deutschland wahr? Wen machen sie als Täter*innen aus? Dafür gibt es das Forschungsprojekt „ArenDt“. Es nimmt die Perspektiven der Juden und Jüdinnen auf Antisemitismus in Deutschland in den Blick. Dafür wurden rund 400 Juden und Jüdinnen quantitativ und 21 qualitativ befragt. Aus Düsseldorf ist der Projektmitarbeiter und Sozialwissenschaftler Niklas Herrberg angereist. Ich heiße dich herzlich willkommen.

Niklas Herrberg:

Danke schön. Ich freue mich auch, dass ihr uns oder mich in dem Fall eingeladen habt.

Thy Le:

Worum geht es denn bei eurem Forschungsprojekt ArenDt?

Niklas Herrberg:

Wir beschäftigen uns mit den Perspektiven von Jüdinnen und Juden auf Antisemitismus, insbesondere auf politisch-islamischen Antisemitismus, also wie nehmen Jüdinnen und Juden das wahr? Wie deuten und verstehen sie das? Und welche Handlungskonsequenzen, also beispielsweise, ob man bestimmte Symbole wie eine Davidstern-Kette trägt oder nicht, entstehen daraus? Wir sagen meistens, dass es eine Fokussetzung auf politisch-islamischen Antisemitismus ist, weil wir natürlich nicht beanspruchen können, auch nicht beanspruchen wollen, einfach eine Form von Antisemitismus ganz isoliert zu betrachten und zu sagen: Bitte erzählen Sie uns jetzt nur, wie Sie diesen Antisemitismus wahrnehmen, und wir blenden alles andere aus. Das würde natürlich auch ein ganz falsches Bild ergeben. Wir versuchen, Antisemitismus oder politisch-islamischen Antisemitismus im Kontext anderer Formen, beispielsweise aus der extremen Rechten, aus der Linken, aus der Mitte der Gesellschaft zu betrachten, setzen aber da schon so einen Fokus dann einfach drauf, also wie wird eigentlich jüdisches Leben in Deutschland geprägt?

Thy Le:

Was ich an eurem Projekt interessant finde, ist dieser Perspektivwechsel, also die Betroffenenperspektive auf die Täter*in zu beleuchten. Warum ist dieser Perspektivwechsel so wichtig?

Niklas Herrberg:

Erstmal zwei allgemeine Punkte. Der erste Punkt ist: Die Betroffenenperspektive, also die Frage, wie Jüdinnen und Juden eigentlich Antisemitismus wahrnehmen, ist natürlich an sich schon relevant. Die Betroffenen sind ja eine relevante Stimme, die gehört werden sollte und gehört werden muss in der Debatte und auch im Verständnis davon, was Antisemitismus ist, wie er sich auswirkt, wie er jüdisches Leben in Deutschland beeinflusst. Zum anderen kann man auch aus der Perspektive der Antisemitismusforschung da ein Argument finden. In der Antisemitismusforschung geht es um diejenigen, die antisemitisch denken, die antisemitisch handeln und deren Motive, Gründe, Weltbilder und wie sie sich antisemitisch äußern. Das kann man natürlich ganz wunderbar erforschen, ohne auf Jüdinnen und Juden zurückkommen zu müssen, weil dem Antisemiten geht es natürlich um das Bild vom Juden, was er sich macht, unabhängig davon, wie jetzt reales jüdisches Leben aussieht.

Aber was natürlich spannend ist: Es hat eine Auswirkung. Sprich, dieses Bild, was Antisemit*innen, was Leute, die antisemitische Narrative befürworten, haben, wirkt sich natürlich auf Juden aus. Juden sind in ihrem Alltag mit Antisemitismus konfrontiert und müssen sich auch ganz handlungspraktisch einen Reim darauf machen. Wenn man im Restaurant sitzt und auf einmal vom Nachbartisch beleidigt oder bedroht wird, auch auf der Straße, macht das natürlich was mit einem. Man muss sich dazu verhalten, man muss es für sich im Alltag verstehen. Und das ist natürlich eine Perspektive, die die Antisemitismusforschung unserer Meinung nach nicht aus den Augen verlieren sollte oder mit einbeziehen muss. Nicht in dem Sinne, dass sich darüber Antisemitismus erklärt, aber dass damit eine weitere Perspektive auf Antisemitismus, gerade auch auf die Wirkung von Antisemitismus, gewonnen werden kann.

Thy Le:

Lese ich daraus, dass die Beschäftigung mit Antisemitismus vorher zu sehr auf die Täter*innen fokussiert war?

Niklas Herrberg:

In meiner Wahrnehmung schon, beziehungsweise nicht zu sehr, sondern – ich glaube ein bisschen auch aus dem Gegenstand resultierend – dass eine Forschung, die das Phänomen irgendwie erklären möchte, erstmal da sucht, wo die Erklärung zu finden ist, nämlich beispielsweise sozialpsychologisch, indem man Bevölkerungsumfragen macht und dann gewisse Items erhebt, oder indem man gesellschaftstheoretisch da rangeht. Auf die Frage, woher Antisemitismus kommt und wie er sich äußert, beziehungsweise welche Argumente oder Erzählungen da vorherrschen, dafür muss man natürlich erstmal nicht Juden für fragen. Aber die Frage „Wie wirkt es?“ ist eben lange unterbelichtet geblieben. Uns interessiert diese Alltagswahrnehmung, also wie schlägt sich Antisemitismus im Alltag nieder? Welche Alltagstheorien werden entwickelt? Wie erklärt man es sich, dass man in der Schule, beim Einkaufen, in Universitäten, in Kultureinrichtungen mit Antisemitismus konfrontiert wird? Wie macht man sich da einen Reim drauf?

Thy Le:

Dazu habt ihr ja viele befragt. Wie setzen sich denn eure Betroffenen zusammen? Wie nehmen sie das aktuelle Klima wahr und auch die zunehmende Bedrohungslage? Also, wenn man das daran misst, dass die Straftaten immer mehr steigen.

Niklas Herrberg:

Erstmal würde ich auf unsere Befragten eingehen: Unser Projekt besteht aus zwei Teilen. Wir machen zum einen eine quantitative Umfrage, also ein Onlinesurvey, wo wir – Stand jetzt – ungefähr 400 Jüdinnen und Juden in ganz Deutschland befragt haben, sodass wir hinterher dann auch statistische Auswertungen machen können: Wie viel Prozent der Befragten verstecken ein Symbol? Oder wie viel Prozent der Befragten nehmen eine bestimmte Art und Weise von Antisemitismus als dominant wahr?

Ich arbeite mit Melanie Rettig am anderen Teilprojekt, wo wir bisher 21 qualitative Interviews geführt haben. Ich habe dafür in ganz Deutschland Jüdinnen und Juden befragt und mit ihnen ein ausführliches Interview geführt, was darauf abgezielt hat, möglichst offen, wirklich von den Personen selbst ihre Relevantsetzungen, ihre Deutungen möglichst frei erzählt zu bekommen. Was erstmal wichtig ist, ist dass es in gewisser Weise eine Art „Antisemitismus von allen Seiten“ ist. Also man kann nicht sagen: „Diese Täter*innengruppe, das sind die Antisemiten, die ist das große Problem.“ Sicherlich gibt es Relevantsetzungen, also dass für die einen die eine Form relevanter ist als für andere. Aber der generelle Eindruck, den wir haben, ist, dass Antisemitismus aus ganz vielen verschiedenen Richtungen kommen kann. Er kann aus dem Bereich des politischen Islam kommen, der kann aber natürlich auch aus der extremen Rechten, aus der Rechten, aus der Linken, aus der radikalen Linken kommen, der kann aus der Mitte der Gesellschaft kommen, der kann quasi in ganz vielen verschiedenen Situationen sozusagen in den Alltag einbrechen und man kann gar nicht sagen, dass es die eine Tätergruppe gibt, an der wir das alles festmachen können. Es ist eher so, dass potenziell auch eine ganz harmlose Situation einfach kippen kann. Man ist auf der Straße und es fährt jemand auf dem Fahrrad vorbei und beleidigt einen einfach. Oder Passanten brüllen „Geh doch nach Auschwitz!“. Oder man ist im Restaurant und es werden irgendwelche Hitler-Anspielungen am Nachbartisch gemacht. Der Nachbar, der sieht, dass man eine Kippa trägt, und einen Holocaust relativierenden Witz macht. Es sind ganz kleine Situationen, die an ganz unvorhergesehenen Stellen passieren können, wo man es vielleicht auch gar nicht erwartet.

Thy Le:

Und gibt es dazu nochmal Differenzierungen oder Abweichungen in der befragten Gruppe, wie sich diese antisemitischen Erfahrungen äußern?

Niklas Herrberg:

Was natürlich immer relevant ist, gerade wenn man erkennbar jüdisch ist, also beispielsweise eine Kippa oder einen Davidstern trägt oder in der Öffentlichkeit Hebräisch spricht, dass dann die Gefahr, persönlich antisemitisch angegangen, bedroht, beleidigt, gegebenenfalls auch tätlich angegriffen zu werden, höher ist. Aber Unsichtbarkeit schützt jetzt dahingehend nicht vor Antisemitismus, dass man natürlich auch einfach das gesellschaftliche Klima, eben den Antisemitismus von allen Seiten, mitschneidet. Also sprich, man muss auch gar nicht erkennbar sein, um zu sehen, dass beispielsweise auf Twitter, auf Facebook oder auf Social Media irgendwo eine antisemitische Debatte geführt wird. Die kann man natürlich auch erkennen, wenn es nicht gegen einen konkret in persona gerichtet ist.

Was viele Befragte thematisieren, sind natürlich Demonstrationen. Berlin ist dabei ein immer wieder herangezogenes Beispiel. Gerade dieses Demonstrationsgeschehen ruft oft einfach eine Erwartungshaltung oder Situationserwartungen in Leuten hervor, dass da potenziell Antisemitismus passieren kann, dass man Antisemitismus erfährt. Was auch relevant ist, ist, dass man sich in bestimmten Stadtteilen, nicht nur auf Berlin bezogen, nochmal anders verhält als woanders, dass man beispielsweise in manchen Gegenden dann doch lieber eine Mütze auf die Kippa aufzieht oder sich doch nochmal anders verhält. Solche Schilderungen können wir aus unseren Interviews auch mitnehmen, wobei es natürlich auch Positionen gibt, die sagen, dass man beispielsweise da eher selbstbewusst auftritt und sagt, dass man sich genau dieses Verhalten nicht von außen diktieren lassen möchte.

Thy Le:

Antisemitismus wird ja auch in öffentlichen Debatten immer wieder im Kontext des Nahostkonflikts thematisiert. Wo liegen denn die Grenzen, ab denen bestimmte Positionen als antisemitisch zu bewerten sind?

Niklas Herrberg:

Oft ist es, glaube ich, wenig zweideutig. Nicht nur, was Jüdinnen und Juden sagen, auch was die Antisemitismusforschung sagt. Also wenn sich positiv auf die Vernichtung Israels bezogen wird, wenn schlichtweg Terroristen glorifiziert werden auf Basis dessen, dass sie Zivilisten ermordet haben. Wenn der Raketenbeschuss von Zivilbevölkerung gefeiert oder befürwortet wird, wenn „Juden ins Gas!“ gerufen wird, wenn Aussagen getroffen werden wie, dass Hitler Recht hatte, das ist natürlich sehr unzweideutig. Das ist sozusagen die eine Schiene. Dann ist aber natürlich so ein bisschen der Punkt, gerade im Kontext von Nahost: Wo verläuft die Grenze? Und das ist ja eigentlich auch immer so ein bisschen die alte Gegenüberstellung von – auf der einen Seite – einer legitimen Kritik am Handeln der israelischen Regierung, an israelischer Politik und Israelkritik oder – auf der anderen Seite – antiisraelischer Antisemitismus, also israelbezogener Antisemitismus, der dann beispielsweise eine komplette Dämonisierung, eine Delegitimierung des Staates impliziert, wo mit doppelten Standards gemessen wird. Also dass beispielsweise Israel im internationalen Vergleich wesentlich kritischer beäugt wird als Nordkorea, um es ganz plakativ zu machen. Dass Israel gleichgesetzt wird mit dem NS-Regime, dass Israel gewünscht wird, dass es verschwinden möge, dass Israel kein echter Staat sei, sondern ein vom internationalen Finanzjudentum der US-Ostküste finanziertes kolonialistisches Projekt, also die klassischen Chiffren. Da ist dann die Grenze zum Antisemitismus bei weitem überschritten.

Man kann glaube ich sagen: Letzten Endes ist es gar nicht so schwer, das eine vom anderen zu trennen. Also dieser Ausruf „Man kann Israel ja gar nicht kritisieren“ – man kann natürlich ganz legitimerweise Israel oder die israelische Politik kritisieren. Wir sehen es gerade in Israel selbst, dass die israelische Zivilgesellschaft auf die Straße geht und Gesetzesvorhaben der Regierung kritisiert. Es gibt viele Beispiele dafür, wie israelische Politik „ganz normal“ kritisiert werden kann. Und solange man dabei nicht auf antisemitische Chiffren, auf Ausweichkommunikation, auf unpassende Vergleiche, auf komplett überzogene Forderungen rekurriert, also Forderungen an Israel, wie es sich denn verhalten sollte, so kann man glaube ich schon relativ schnell ganz gut einschätzen, wo die Grenze verläuft. Man kann immer etwa sagen: Delegitimierung, Dämonisierung und Doppelstandards. Mit diesem sogenannten 3D-Test kann man immer einen ersten Anhaltspunkt bekommen.

Thy Le:

Aber in der rassismuskritischen Arbeit gibt es ja auch schon länger das Bemühen, die Betroffenenperspektive stärker zu berücksichtigen. Siehst du Möglichkeiten, diese Erfahrungen aufzugreifen und rassismus- und antisemitismuskritische Perspektiven zu verbinden?

Niklas Herrberg:

Ja, selbstverständlich. Ich glaube auch, dass das ein sehr relevanter Punkt ist, dass sowohl in der Forschung als auch in der praktischen Präventionsarbeit da nicht so eine wechselseitige Blindheit vorherrscht. Was stellenweise ja auch passiert, dass man das eine gegen das andere ausspielt, also dass man aus Anti-Antisemitismus und Antirassismus ein Entweder-Oder macht. Das ist natürlich der falsche Weg. Antisemitismuskritik sollte nicht blind für Rassismuskritik sein und Rassismuskritik sollte nicht blind für Antisemitismuskritik sein. Was natürlich nicht heißt, dass beispielsweise aus der Perspektive der Antisemitismusforschung gesprochen, antisemitische Tendenzen innerhalb von Rassismuskritik nicht kritisiert werden dürften, denn dazu kommt es oft. Aber da kann man natürlich auch fragen, ob das die angemessene Kritik von Rassismus ist, wenn sie letzten Endes dann auf Antisemitismus hinausläuft. Ich glaube, eine Wechselseitigkeit oder das gemeinsame Denken von beiden ist ganz elementar.

Man kann es auch noch weiterführen: Nicht nur Antisemitismus und Rassismus, sondern auch Sexismus, Transfeindlichkeit, Nationalismus, all diese Perspektiven müssen natürlich auch mit aufgenommen und kritisiert werden. Man sollte verschiedene Phänomene stets zusammendenken, ohne die jeweilige Spezifik aus den Augen zu verlieren, also Antisemitismus beispielsweise nicht einfach nur schlicht unter Rassismus subsumieren oder Rassismus immer nur als eine Form von allgemeiner Menschenfeindlichkeit begreifen. Es ist wichtig, dass man die Spezifika adäquat adressiert, aber dabei auch Phänomene zusammendenkt und eben auch die Wechselverhältnisse zwischen beiden mitbedenkt.

Thy Le:

Es ist ja auch immer mal wieder von „importiertem Antisemitismus“ die Rede. Dabei wird suggeriert, dass Antisemitismus besonders unter Menschen mit Migrationsbiografie verbreitet wäre. Was sagen denn eure Ergebnisse dazu?

Niklas Herrberg:

Auf der einen Seite ist es für Jüdinnen und Juden durchaus ein reales Problem. Also sie sind mit Antisemitismus von Migrant*innen oder von Personen, die sie als migrantisch wahrnehmen, konfrontiert. Es ist eine reale Betroffenheit im Alltag, wobei man eben die Ursachen – und das machen auch alle Befragten bei uns – differenziert betrachten muss. Also nicht im Sinne von „Jeder, der nach Deutschland kommt, ist ein Antisemit in spe“ oder „Jeder Muslim, der nach Deutschland kommt, ist ein Antisemit in spe“. Diese Betrachtung haben sie nicht, da findet schon eine Differenzierung statt, dass beispielsweise Muslime mit einem liberalen Religionsverständnis anders ticken als solche, die ein eher fundamentalistisches Verständnis haben. Diese Differenzierung ist wichtig.

Aber man kann auch nicht sagen „Es ist nur eine Debatte“. Es ist auf der einen Seite ein Problem, was auch adressiert werden muss, wo, wenn es zu Straftaten kommt, eben einerseits auch konsequent gehandelt werden und wo man andererseits auch, gerade, wenn es subtil bleibt, in den Austausch gehen muss. Auf der anderen Seite, und das ist der zweite Punkt, ist es nicht nur reales Problem, sondern es ist auch ganz viel eine Debatte. Also es ist eine Problematisierung von etwas, was nicht unbedingt da sein muss, weil es schnell auch so eine Art Fingerzeig dann ist. Also dass in der Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden die Gesellschaft auf Muslime zeigt im Sinne von „Das sind doch die eigentlich wahren Antisemiten, wir sind ja überhaupt keine Antisemiten mehr“. Dass eine Externalisierung stattfindet, dass es also immer der Antisemitismus der „anderen“ ist. Also nicht „wir“ als deutsche Gesellschaft, sondern „die Zugewanderten“ sind jetzt die neuen Antisemiten und wir können unsere Hände in Unschuld waschen. Und in der Wahrnehmung unserer Befragten ist es dann oft so, dass man sich selbst eigentlich nur noch als Instrument oder Objekt fühlt. Also es geht dann gar nicht mehr um Juden, um eine genuine Antisemitismuskritik, sondern eigentlich nur noch um Selbstvergewisserung. Und das ist etwas, wo unsere Interviewpartner*innen auch sehr kritisch darauf hinweisen, dass diese Debatte zurzeit in keiner Weise produktiv geführt wird. Ja, das sind glaube ich so diese beiden Positionen. Also es ist ein reales Problem, es ist aber auch eine Debatte. Man muss beides zusammendenken und vor allen Dingen auch die Kritik von Jüdinnen und Juden ernstnehmen.

Thy Le:

Ich habe auch in den Zwischenberichten gelesen, dass es von Betroffenen immer wieder heißt, es fehle allgemeines Wissen zu jüdischer Vielfalt und es fehle Austausch, um diese Wissenslücken zu füllen. Noch immer ist ja die Schoah das dominierende Thema, wenn wir in Deutschland von Juden und Jüdinnen öffentlich sprechen. Das bemängeln ja auch einige eurer Befragten. Dazu habe ich zwei Fragen: Gibt es einen Zusammenhang zwischen diesem generellen Unwissen über diese Vielfalt und den vermehrten Straftaten beziehungsweise dem sich zuspitzenden antisemitischen Klima?

Niklas Herrberg:

Die Situation ist natürlich, gerade wenn wir die Perspektive auf die Schoah mit einbeziehen, widersprüchlich, weil einerseits ist die Schoa natürlich auch für Jüdinnen und Juden nach wie vor relevant und es wäre auch moralisch in keiner Art und Weise vertretbar, das einfach zu vergessen oder nicht mehr zu thematisieren. Auf der anderen Seite ist das Reduziertwerden darauf, Opfer der Schoah zu sein, auch nicht richtig. Die Schoah steht natürlich gänzlich der Normalität jüdischen Lebens im Weg, weil gerade auch in der Perspektive von Nichtjuden Judentum gleichgesetzt wird mit Opfersein, sodass hier eine widersprüchliche Situation existiert. Es ist einerseits relevant, andererseits ist es problematisch, dass diese Dominanz des Themas eben schnell auch jüdisches Leben im Hier und Jetzt stigmatisiert und beispielsweise immer wieder gefragt wird: „Was ist der Familie passiert?“ Und dass, sobald das jüdische Gegenüber seine jüdische Identität zeigt oder sie erfahrbar wird, das Gespräch ein bisschen entgleist, indem dann nur über die Schoah gesprochen oder man unter Druck gesetzt wird, über die Schoah zu reden. Genauso sollte es natürlich nicht laufen.

Thy Le:

Eine Abschlussfrage: Was können denn nichtjüdische Menschen tun, um Betroffene von Antisemitismus zu stärken und zu schützen?

Niklas Herrberg:

Antisemitismus zu erkennen ist natürlich erstmal das eine, gerade auch, wenn er sehr subtil chiffriert und nicht einfach offen auftritt. Aber beispielsweise auch, – weil wir vorhin diskutiert haben, dass Antisemitismus oft im Alltag, auf der Straße, in ganz vielen verschiedenen Situationen passiert – dass man sich einmischt. Dass man also nicht wegsieht, wenn irgendwo Antisemitismus passiert. Dabei muss man natürlich immer auch die Situation im Hinterkopf haben und mit einer gewissen Vorsicht herangehen. Aber dass man eben aktiv seine Stimme gegen Antisemitismus, und sei es nur im Alltag, erhebt und nicht einfach weggesehen wird. Damit ist durchaus schon mal geholfen. Einige Befragte berichten, man wird beleidigt auf offener Straße, Leute hören es und machen nichts, gehen vorbei.

Ein anderer Punkt ist, gerade, wenn man auf Social Media unterwegs ist, dass man sich überlegt: Was teilt man? Dass man einfach auch mit ein bisschen Bewusstsein auf Social Media unterwegs ist, dass man, was geteilt wird, kritisch hinterfragt. Also denken, bevor man teilt oder kommentiert. Dass also auch da eine Auseinandersetzung stattfindet und man eben mit einem gewissen Problembewusstsein rangeht.

Was glaube ich generell dabei wichtig ist, wenn man sich mit Antisemitismus auseinandersetzt, ist, dass man sich eben auch mit Antisemitismus auseinandersetzt, der die eigenen politischen Überzeugungen betrifft, dass man nicht immer nur den Antisemitismus der anderen kritisiert, sondern eben auch da ansetzt, wo es wehtut. Dass man letzten Endes eine Antisemitismuskritik entwickelt, die sich bewusst mit Antisemitismus auseinandersetzt und eben genuines Interesse daran hat, Antisemitismus zu kritisieren, was dann heißt, dass man letzten Endes auf seine eigenen politischen Überzeugungen vielleicht auch mal ein bisschen weniger Rücksicht nehmen sollte.

Thy Le:

Ja, cool. Danke, dass du uns heute einen Einblick in eure Arbeit im Forschungsprojekt gegeben hast.

Niklas Herrberg:

Ja, ich kann nur von unserer Seite aus danken, dass ihr Interesse habt, weil es ist für uns auch superspannend, hier präsentieren zu können, wo wir stehen und was wir gerade so machen. Also den Dank kann ich nur zurückgeben.

Thy Le:

In den Shownotes ist das Projekt natürlich auch verlinkt. Und wenn Sie eine extra Minute für uns haben, bitte nehmen Sie an den Umfragen teil, die wir in den Shownotes ebenso auflisten. Ja, und bis dahin vielen Dank und bis zum nächsten Mal, wenn Sie denn mögen.

Diese Folge wurde von ufuq.de im Rahmen von KN:IX umgesetzt. Redaktion und Moderation: Thy Le. Postproduktion: Malte Fröhlich.

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