„Antisemitismus lässt sich nicht mit Rassismus bekämpfen!“ Interview mit Jouanna Hassoun anlässlich der Gewalteskalation in Israel und Palästina
18. Oktober 2023 | Diversität und Diskriminierung, Geschichte, Biografien und Erinnerung, Radikalisierung und Prävention

Gruppe von Schüler*innen im Gespräch mit Lehrer im Klassenraum; Bild: Eduard Figueres/iStock

Jouanna Hassoun ist mit 6 Jahren als Tochter palästinensischer Flüchtlinge aus dem Libanon nach Deutschland geflohen. Heute arbeitet sie mit ihrem Verein Transaidency in der politischen Bildung. Mit ihrem Kollegen Shai Hoffmann im Projekt „Trialog“ besucht sie Schulklassen, um mit Jugendlichen die gegenwärtige Eskalation in Israel und Palästina und die Auswirkungen in Deutschland zu besprechen. Pierre Asisi hat mit ihr gesprochen.

Hinweis: Übersicht über Online-Fortbildungen verschiedener Veranstalter zum Umgang mit dem Krieg in Israel und Paläs=na in der Bildungsarbeit

 

Pierre Asisi:

Jouanna, du bist zwar vieles mehr, aber auch politische Bildnerin und Palästinenserin. Wie geht es dir in solchen Zeiten, in denen du von den Geschehnissen einerseits persönlich betroffen, anderseits professionell gefordert bist?

Jouanna Hassoun:

Als ich von dem Massaker der Hamas erfahren habe, war ich erschüttert. Es ist einfach fürchterlich – das Ereignis an sich und auch das, was darauf folgte. Es ist grauenvoll, was die Hamas gemacht hat. Das ist für sich alleine genommen grausam, brutal, widerwärtig. Israelische, jüdische Menschen haben gelitten. Ihre Familien leiden immer noch, sie wissen teilweise nicht mal, ob ihre Angehörigen noch leben. Das bedeutet aber nicht, dass wir keine Empathie mehr zeigen dürfen für die Palästinenser*innen. Die meisten haben mit der Hamas nichts zu tun. Ich erhalte teilweise direkt Bilder und Videos von Personen aus Gaza. Es bricht mir das Herz, wenn ich sehe, was da passiert.

Andererseits muss ich meine Gefühle manchmal zur Seite legen, weil ich als politische Bildnerin gefordert bin und auch eine Verpflichtung spüre, aus meiner Position heraus etwas zu dem Unrecht zu sagen – das ist in Deutschland gerade nicht einfach. Es ist also gerade doppelt schwierig für mich, damit einen Umgang zu finden, da kaum öffentlicher Raum dafür da ist, um über diese Ungerechtigkeit zu sprechen.

Pierre Asisi:

In Berlin wurden Lehrkräfte von der Bildungsverwaltung dazu angehalten, den Terrorangriff der Hamas zu thematisieren. Wie kann das gelingen, gerade bei Jugendlichen, die die Angriffe vielleicht tatsächlich als „Ausbruch aus dem Gefängnis Gaza“ gutheißen?

Jouanna Hassoun:

Es ist die Frage, wie der Terrorangriff thematisiert wird: Wie spreche ich darüber mit den Jugendlichen? Wie kann ich ihre Emotionen auffangen? Wie können wir Empathie fördern und dafür sorgen, dass Israelis nicht entmenschlicht werden? Das gelingt nur, wenn ich den Raum für die Ungerechtigkeitserfahrungen aller Jugendlichen öffne.

Es geht ja darum, mit den Jugendlichen ins Gespräch zu kommen, das Geschehene einzuordnen und Empathie für beide Seiten herzustellen. Wir können den Konflikt hier in Deutschland nicht lösen, wir können das, was passiert ist, auch nicht ungeschehen machen. Aber wir können uns bemühen, dass sich die Menschen hier, vor allem die Jugendlichen, nicht wegen dieser Geschehnisse radikalisieren. Das gelingt nur, wenn sie ihre Gefühle äußern können, wenn sie wahrgenommen und Räume geschaffen werden, um reflektieren zu können.

Und wenn sie diesen Raum nicht in der Schule bekommen, wo denn sonst? Die Schule als Schutzraum ist oft der einzige Ort, um in den Diskurs zu gehen und die menschliche Seite zu unterstreichen. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Jugendliche, wenn man sie ernst nimmt und ihnen zuhört, auch selbst bereit sind, zuzuhören und zu reflektieren. Dabei hilft es natürlich überhaupt nicht, alle in einen Topf zu werfen. Die Einstellungen der Jugendlichen sind sicher oft problematisch, aber ja nicht festgefahren. Oftmals herrscht einfach auch noch sehr viel Unwissen und Unreflektiertheit. Da können wir noch ansetzen und etwas bewirken.

Pierre Asisi:

Es scheint, als ob die Grenze der Meinungsäußerungen gerade enger gesetzt werden soll. In Berliner Schulen soll zum Beispiel das Zeigen der palästinensischen Fahne oder das Kufiya-Tuch untersagt werden können. Wie gehen wir damit in der politischen Bildung um?

Jouanna Hassoun:

Palästinenser*innen haben ein Recht mit ihrer Identität anerkannt zu werden. In Berlin leben knapp 45.000 Menschen palästinensischer Herkunft. Die Mehrheit unterstützt die Hamas nicht. Ich finde es daher schwierig, wenn plötzlich die Kufiya verboten wird oder die palästinensische Fahne als antisemitisches Symbol gilt.

Auch wenn wir seit 75 Jahren staatenlos sind, werde ich meine palästinensische Identität niemals aufgeben oder verschweigen. Ganz im Gegenteil, wenn mich jemand fragt, ob ich Libanesin bin, antworte ich: Nein, ich bin Palästinenserin, wurde im Libanon geboren und bin deutsche Staatsbürgerin. Deutschland ist meine Heimat – zumindest dachte ich das. Im Moment habe ich jedoch nicht das Gefühl, dass meine palästinensische Identität hier überhaupt erwünscht ist.

Daher halte ich den politischen Aktionismus der letzten Tage für sehr problematisch. Verlierer ist wieder die politische Bildung. Er wird uns in der politischen Landschaft und der politischen Bildung mehr schaden als nutzen. Jetzt sind wir wieder die Feuerwehr und müssen die Brände löschen. Das machen wir schon seit Jahren. Wir wissen, was wir tun, Verbote helfen dabei absolut nicht. Sie fördern nicht den Schulfrieden – im Gegenteil: Sie machen es uns nur noch schwerer, an einen Teil der Jugendlichen hier heranzukommen.

Wir sind ja bereits mit Verschwörungserzählungen konfrontiert, dass „man in Deutschland nichts gegen Israel sagen darf“. Auch vor diesem Hintergrund ist die Einschränkung der Versammlungs- und Meinungsfreiheit sehr problematisch und nicht einfach aufzufangen. Wir wollen Jugendliche darin bestärken, dass sie sich zu Wort melden. Die Frage ist, in welcher Form sie das tun.

Pierre Asisi:

Ist es aus deiner Sicht sinnvoll, hier von einem „antipalästinensischen Rassismus“ zu sprechen?

Jouanna Hassoun:

Die wissenschaftliche Diskussion um diesen Begriff ist relativ neu. Ich weiß nicht, wie ich dazu stehe. Ich bin mir unsicher, ob es ein spezifischer Rassismus oder einfach eine Form von antimuslimischem Rassismus ist. Aber Rassismus spielt definitiv eine Rolle: Jugendliche werden homogenisiert, es wird ihnen pauschal Antisemitismus unterstellt und – auch wenn sie hier geboren sind! – in den politischen Debatten sogar mit Abschiebung gedroht. Gleichzeitig tritt der Antisemitismus der Mehrheitsgesellschaft in den Hintergrund, obwohl gerade eine Partei Rekordwahlergebnisse erzielt, die als antisemitisch bezeichnet werden kann. Antisemitismus lässt sich nicht mit Rassismus und Rassismus nicht mit Antisemitismus bekämpfen. Beides muss gleichzeitig im Blick genommen werden und gleichzeitig bearbeitet werden. Dazu gibt es keine Alternative.

Pierre Asisi:

Du hast mit deinem jüdischen Kollegen Shai Hoffmann ein Bildungsprojekt zum Nahostkonflikt gegründet. Wie sieht eure Arbeit genau aus und seid ihr gerade aktiv?

Jouanna Hassoun:

Unser aktuelles Projekt heißt „Trialog“, bei dem Shai und ich in Schulklassen gehen und mit einem multiperspektivischen Ansatz mit den Jugendlichen ins Gespräch kommen. Zuvor haben wir gemeinsam an Bildungsvideos gearbeitet, die genau zu diesem Thema entstanden sind. Was uns nun genau in den Schulen erwartet, die wir ab der kommenden Woche besuchen, kann ich in dieser aufgeheizten Stimmung noch gar nicht sagen.

In der Vergangenheit haben wir aber bereits hunderte von Workshops gegeben, dabei konnten wir auch die Jugendlichen, die auf Krawall gebürstet waren, abholen. Wichtig ist, dass der Workshop ein safer space ist. Die Jugendlichen sollen sich erstmal auskotzen dürfen und ihre Emotionen rauslassen. Wir wollen schließlich wissen, was die Jugendlichen beschäftigt. Wenn dann alles ausgesprochen ist – auch die krudesten Verschwörungserzählungen – fangen wir an zu filtern und machen einen Faktencheck. Und dann geht es natürlich um Differenzierung. Wie differenziert ist die Sicht auf jüdische und muslimische Menschen? In Israel und Deutschland? Das ist ja keine homogene Masse. Das können wir schön auch mit den eigenen Biografien veranschaulichen.

Bei dieser Arbeit nehmen wir die Jugendlichen auch mit ihren eigenen Rassismuserfahrungen ernst, die sie häufig machen. Wenn Schulen also auf uns zukommen und nur Antisemitismus thematisieren möchten und es gar keine Reflexion zu Rassismus gibt, dann ist das leider nicht der Rahmen für unsere Arbeit.

Und was natürlich zusätzlich hinzukommt: Gerade brennt die Hütte vor Anfragen, wir arbeiten aber zu großen Teilen ehrenamtlich und haben aktuell keine Förderung für das Projekt. So können wir natürlich nicht nachhaltig arbeiten, dabei wird uns das Thema noch eine Weile beschäftigen.

Pierre Asisi:

Jouanna, vielen Dank, dass du dir die Zeit genommen hast. Wir wünschen viel Kraft für deine wichtige Arbeit!

 

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Die Beiträge im Portal dieser Webseite erscheinen als Angebot von ufuq.de im Rahmen des Kompetenznetzwerkes „Islamistischer Extremismus“ (KN:IX).
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