Alles inszeniert? Anregungen zum Umgang im Unterricht mit Fragen zum Anschlag in Berlin
4. Januar 2017 | Radikalisierung und Prävention

„Der Anschlag in Berlin stinkt zum Himmel.“ Solche und ähnliche Aussagen werden in sozialen Medien nach dem Anschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz viel geteilt – und können nach den Weihnachtsferien auch im Unterricht zur Sprache kommen. Im Klassenzimmer wird es kaum möglich sein, die Arbeit der Ermittlungsbehörden im Detail zu diskutieren. Dennoch können solche Einwände, wenn sie denn von Schülerinnen und Schülern geäußert werden, für weitergehende Gespräche über Hintergründe und Folgen islamistischer Gewalt genutzt werden.  

Der Anschlag auf den Weihnachtsmarkt in Berlin sorgt in den sozialen Medien für heftige Diskussionen. Immer wieder geht es dabei auch um den Verdacht, der Anschlag sei von den Sicherheitsbehörden inszeniert worden. „Der ‚Anschlag’ von Berlin stinkt zum Himmel. Die Ermittlungen gleichen eher einer Märchenstunde denn einer professionellen Ermittlung“, erklärte der ehemalige rbb-Moderator Ken Jebsen in einem seiner Youtube-Videos zum Anschlag, das über 300.000 mal geschaut wurde. Sein Videokanal ist beliebt (eine Einordnung des Kanals finden Sie hier). Nicht selten verbreitet er Theorien über Verschwörungen der Politik, „des Westens“ oder der Medien. Auch auf der deutschsprachigen Webseite Russia Today, die in sozialen Medien oft geteilt wird, ist in Berichten über den Anschlag von einem „bekannten Drehbuch“ die Rede.

Genährt werden diese Zweifel an der offiziellen Darstellung vor allem durch den Fund eines Ausweises, den der Attentäter im LKW zurückließ, der aber erst am nächsten Tag von der Polizei gefunden wurde. Wie kann das sein?

Während Terrorismus-Experten darüber spekulieren, ob es sich bei diesem Fund von Ausweisdokumenten um eine bewusste  Strategie der Dschihadisten handelt, wird er in vielen Beiträgen in sozialen Medien als Beleg dafür gesehen, dass die Anschläge gefaked seien. Als sogenannte False-Flag-Operationen seien sie das Werk von Geheimdiensten, mit denen gezielt Stimmung gegen Muslim_innen und für schärfere Sicherheitsgesetze gemacht werden soll.

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Skepsis gegenüber der offiziellen Version des Attentats ist weit verbreitet – auch unter Muslim_innen und Menschen mit Migrationsgeschichte. Sie spiegelt Vorbehalte gegenüber der Polizei und anderen staatlichen Institutionen, die in den vergangenen Jahren insbesondere durch den NSU-Skandal geschürt wurden (vgl. dazu das kürzlich erschienene Buch „Die haben gedacht, wir waren das“ – MigrantInnen über rechten Terror und Rassismus).

Im Unterricht lassen sich einige dieser Vorbehalte und Fragen zum Anschlag in Berlin als Einstieg in Gespräche über die Hintergründe und Folgen solcher Anschläge aufgreifen. Dabei sollte nicht jeder Zweifel an der Berichterstattung der Medien und jeder Vorbehalt gegenüber staatlichen Institutionen als Verschwörungstheorie abgetan werden. Auch geht es nicht darum, kritische Haltungen gegenüber Politik und Staat an sich in Frage zu stellen. Vielmehr bietet sich die Chance, über weitergehende Themen, über Hintergründe und Folgen terroristischer Anschläge ins Gespräch zu kommen.

„Kann das stimmen?“ – Fragen und Argumente

Der späte Fund eines Ausweises im LKW gilt in vielen Beiträgen in sozialen Medien als Beweis, dass die Tat nicht wie behauptet von Anis Amri begangen wurde, sondern ihm nachträglich untergeschoben wurde. Die einfache Erklärung, dass die Spurensicherung, wie in solchen Fällen üblich, von außen nach innen systematisch den LKW untersuchte, um alle Spuren sicherzustellen, und aus diesem Grund erst nach einem Tag überhaupt bis zum Fußraum der Fahrerkabine vordrang, wo der Ausweis lag, wird dabei nicht zur Kenntnis genommen.

Typisch für diese Art der Argumentation ist ein Beitrag der islamistischen Facebook-Initiative MuslimStern. MuslimStern gibt vor, sich gegen Muslim- und Islamfeindlichkeit einzusetzen, bedient dabei aber eine Opferideologie, nach der „die“ Muslim_innen Opfer einer grundsätzlichen Feindschaft „der“ Politik und „des“ Westens seien. Ähnliche Argumente werden auch von manchen Jugendlichen im Zusammenhang mit dem Anschlag in Berlin vorgebracht.

Argument 1:

„Warum vergessen die IS-Terroristen nur im Westen ihre Ausweise? Es ist kein Fall von IS-Terroranschlägen in der muslimischen Welt bekannt, wo sie ihre Ausweise hinterlassen haben.“

Die Ermittlungen zum Anschlag stehen noch ganz am Anfang – und man kann sicher sein, dass sie von der Öffentlichkeit aufmerksam verfolgt werden. Wie die Tat genau ablief und was bei den Ermittlungen eventuell schiefgelaufen ist, wird sich wohl erst in den nächsten Wochen zeigen. Im Unterricht darüber zu mutmaßen, wäre wenig hilfreich. Dennoch lässt sich an diesem Argument eine generelle Frage stellen: Was sind die Hintergründe dschihadistischer Gewalt? Welches Ausmaß hat sie?

In den vergangenen Jahren gab es diverse Strafverfahren gegen gewaltbereite Islamist_innen, denen die Planung oder Unterstützung von Anschlägen vorgeworfen wurde. (vgl. dazu einen Überblick in der taz) Es handelt sich also nicht um Einzelfälle, die von einer finsteren Macht geplant und dann Muslim_innen durch „vergessene Ausweise“ in die Schuhe geschoben wurden, sondern um ein reales gesellschaftliches Problem.

Dies zeigt sich auch in den Parallelen zu Fällen rechtsextremer Gewalt, wie sie zum Beispiel vom NSU verübt wurde. Hier müssen sich die ermittelnden Behörden den Vorwurf gefallen lassen, dass sie die Ermittlungen verzögert und kaum etwas unternommen haben, um die Verbrechen aufzuklären. Dies wurde in mehreren Untersuchungsausschüsse aufgezeigt. Dennoch besteht kein Zweifel, dass die Straftaten tatsächlich von den Tätern begangen wurden und dass die Täter aus rassistischen Motiven handelten. Behördenversagen ist also kein Beleg, dass es die Straftat nicht gegeben hat. Dies gilt auch für dschihadistische Gewalt. Auch hier gibt es keine Zweifel, dass die Täter genau das tun, was sie für richtig halten und wozu sie sich bekennen.

Argument 2:

„Im Islam gilt das Prinzip, dass man seine gute Taten nicht zur Schau stellt. Es ist gar verpönt zu sagen, ich habe diese oder jene gute Tat begangen. Egal ob man spendet, einem Armen hilft, besonders viele Gebete verrichtet, freiwillig fastet oder gar in den Krieg zieht und gegen seine Feinde kämpft. (…) Das ist kein Geheimnis unter den Muslimen, alle Muslime wissen und auch die IS-Anhänger, dass die gute Taten (ihrer Meinung nach tun sie was Gutes) im Verborgenen getan werden, ohne das die Menschen ihre Namen wissen.“

Terrorist_innen geht es um Öffentlichkeit. Ihr Ziel ist es, die Bevölkerung durch Anschläge zu verängstigen. Aus diesem Grund veröffentlichen dschihadistische Organisationen wie der „Islamische Staat“ oder al-Qaida regelmäßig Videos ihrer Angriffe und Anschläge. Nur so erreichen sie ihr Ziel, möglichst viele Menschen zu verunsichern und die Gesellschaft zu spalten.

Der „Islamische Staat“ selbst hat die dahinterstehende Logik in der Online-Zeitschrift Dabiq beschrieben: Die Anschläge im Westen zielen darauf, die „Grauzonen“ zwischen „wahren“ Muslim_innen und den Ungläubigen abzuschaffen. Die Anschläge würden die Stimmung gegenüber Muslim_innen so sehr verschärfen, dass letztlich alle Muslim_innen gezwungen seien, Partei für die Radikalen zu ergreifen. „Die Grauzonen verschwinden und es wird keinen Platz mehr geben für Unentschlossenheit und Unentschiedenheit. Es wird nur noch ein Lager des Glaubens und des Unglaubens geben.“ Ein Anschlag, über den niemand berichtet, wäre daher letztlich ein gescheiterter Anschlag.

Das gilt auch für die Attentäter selbst. In ihrer Vorstellung werden sie zu Märtyrern, die für „den Islam gestorben“ sind. Dies ist aus ihrer Sicht eine Ehre – und kein Makel. Islamistische Organisationen veröffentlichen daher immer wieder Foto getöteter Attentäter oder Videobotschaften, die von den Attentätern vor der Tat aufgenommen wurden. Darin beschreiben sie, warum ihre Tat aus ihrer Sicht notwendig ist und verkünden, wie stolz sie darüber sind, als Märtyrer zu sterben. Auch vom Berliner Attentäter gibt es ein Video, in dem er dem „Islamischen Staat“ seine Loyalität bekundet. Auch hier geht es darum, Öffentlichkeit zu schaffen, um damit vielleicht auch andere von seinem Handeln zu überzeugen.

Argument 3:

„Wenn jemand einen Terroranschlag im Westen verübt, dann weiß er, dass er im Falle der Identifizierung seiner Person seine ganze Familie in Gefahr bringen würde. Die Terroristen haben Eltern, Geschwister, Freunde und manche sogar Kinder. Auch ein Terrorist möchte nicht, dass seinen Angehörigen aufgrund seiner Taten etwas Schlimmes zustößt.“

In der dschihadistischen Vorstellung steht der Tod als Märtyrer nicht für ein Ende des Lebens, sondern für den Beginn eines Lebens im Paradies. „Ihr liebt das Leben, wir leben den Tod“ lautet eine Parole, die von Dschihadisten benutzt wird. Dies rechtfertigt auch eventuelle Gefahren, die damit für Angehörige verbunden sind. Werden sie zum Opfer von Repressionen, ist dies aus dschihadistischer Sicht notwendiger Teil des Kampfes – und daher kein Grund, keine Anschläge durchzuführen. Im Gegenteil, auch die Familien profitieren nach dieser Vorstellung von den Taten ihrer Angehörigen. So heißt es in einer Empfehlung des „Islamischen Staates“ an seine militärischen Führer, die in der Zeitschrift Dabiq erschienen ist: „Kümmere dich um die Angehörigen der Märtyrer und die Gefangenen – und bevorzuge sie gegenüber anderen.“

Das heißt nicht, dass nicht auch dschihadistische Attentäter manchmal daran zweifeln, dass ihre Taten solche Folgen tatsächlich rechtfertigen. In der Ideologie sind solche Zweifel aber nicht vorgesehen.

Anregungen für weiterführende Gespräche

Der Anschlag in Berlin wirft viele Fragen auf, die auch für den Unterricht interessant sind und über kleinteilige Fragen zur der Tat selbst hinausgehen.

„Ist Terror ein neues Phänomen?“

Der Anschlag in Berlin verunsichert die Bevölkerung und führte zu Diskussionen darüber, wie sich Sicherheit gewährleistet ließe. „Der Terror ist in Deutschland angekommen“, titelten manche Zeitungen. Damit lassen sich verschiedenen Fragen verbinden.

Terroristische Gewalt gibt es in Europa schon länger. Am Beispiel dieser Grafik über die Opfer von Terrorismus in Westeuropa in den vergangenen Jahrzehnten lässt sich zum Beispiel die Frage diskutieren, ob die aktuelle Angst tatsächlich neu ist. Demgegenüber zeigt diese Grafik, wie stark die Zahl von Opfern von Terroranschlägen in den letzten Jahren angestiegen ist – aber eben nicht in Europa, sondern weltweit.

Interessant sind in diesem Zusammenhang auch Einschätzungen zur tatsächlichen Bedrohung durch Gewalt im öffentlichen Raum. So erklärte Thomas Feltes, Professor für Kriminologie an der Ruhr-Universität ­Bochum, nach den Anschlägen in Würzburg und Ansbach: Wir leben „in einer der ­sichersten Welten überhaupt, sowohl geographisch als auch historisch ge­sehen. Die Bürger in Deutschland waren nie so sicher vor Gewalt, wie sie es derzeit sind. Objektive Sicherheit ist ganz schwer zu bestimmen. Für den einen ist Sicherheit gleichbedeutend mit Gesundheit, für den anderen meint es, im Alter versorgt zu sein, andere meinen damit die Sicherheit im Straßenverkehr oder die Sicherheit, nicht Opfer einer Straftat zu werden.“

Anhand dieser Aussage – und dem Interview – lässt sich mit Schüler_innen diskutieren, woran sich das Sicherheitsgefühl festmacht, welche Erfahrungen dabei eine Rolle spielen – und inwiefern sie mit der Realität übereinstimmen.

Stimmen von Muslim_innen und Geflüchteten

Nach dem Anschlag von Berlin meldeten sich auch viele Muslim_innen zu Wort und verurteilten die Gewalttat. Dabei kam auch die Sorge zum Ausdruck, der Anschlag würde feindselige Stimmungen gegenüber Muslim_innen schüren: „Die­ser Anschlag erschüt­tert eine ganze Stadt. Es erschüt­tert Ber­lin, unsere Stadt und zugleich Sinn­bild für die Plu­ra­li­tät unse­res Lan­des. Umso schö­ner sind die Reak­tio­nen der (meis­ten) füh­ren­den Politiker*innen. Sie sind bedacht, kon­struk­tiv und war­nen vor vor­ei­li­gen (Trug-)Schlüssen. (…) Jetzt ist nicht der Moment, um gegen­sei­tig mit dem Fin­ger auf andere zu zei­gen und sie für schul­dig zu erklä­ren. Jetzt ist nicht der Moment, um jeg­li­chen Gene­ral­ver­dacht zu schü­ren. Jetzt ist der Moment, um gesamt­ge­sell­schaft­lich ein Zei­chen zu set­zen, um zusam­men­zu­rü­cken, wie es uns der inter­re­li­giöse Got­tes­dienst in der Gedächt­nis­kir­che am gest­ri­gen Abend ein­drucks­voll gezeigt hat“, so eine Teilnehmerin aus dem Berliner Projekt juma.

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Ähnliche Sorgen waren auch unter Geflüchteten zu hören. So schrieb ein syrischer Journalist, der mittlerweile in Deutschland lebt: „Nach dem Anschlag stießen manche Flüchtlinge auf Hass und Ablehnung. Doch ich finde es nicht richtig, das Leben der einen mit dem Hass auf andere zu verrechnen. Im Gegenteil: Wir müssen den Terrorismus und Extremismus besiegen. Wir müssen zusammenstehen, eine Rose und eine Kerze im Gedenken an die unschuldigen Opfer hier in Berlin und überall auf der Welt niederlegen. Berlin ist es wert. Die Stadt zieht ihre Schönheit und ihre Magie aus den Herzen und aus dem Lächeln ihrer Bewohner.“

Diese Aussagen machen deutlich, wie klar sich Muslim_innen vom Terror abgrenzen, und mit welchen Sorgen sie die Anschläge verfolgen. Sie eignen sich, um mit Schüler_innen über die Gefahren zu diskutieren, die vom Terror für den gesellschaftlichen Zusammenhalt ausgehen – und was zu tun wäre, um zu vermeiden, dass der „Islamische Staat“ mit seiner Strategie der Spaltung und Polarisierung der Gesellschaft Erfolg hat.

Was bedeutet „Dschihad“?

Der Begriff des „Dschihads“ hat unterschiedliche Bedeutungen, auch wenn er in der öffentlichen Debatte oft mit „heiligem Krieg“ übersetzt wird. Dies trifft sich mit dem Verständnis, wie es vom „Islamischen Staat“ und anderen dschihadistischen Organisationen vertreten wird. Für andere Muslim_innen geht es dagegen ganz allgemein um die Anstrengung, dem Glauben gerecht zu werden.

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Dieses Video der Datteltäter und der bpb stellt die unterschiedlichen Bedeutungen des Begriffs vor und eignet sich, um mit Muslim_innen – aber auch mit Nichtmuslim_innen – darüber ins Gespräch zu kommen, worin eine solche Anstrengung bestehen könnte.

Die Datteltäter sind Youtuber, die sich mit aktuellen Fragen beschäftigen. Auch mit dem „Islamischen Staat“: Auf ihrem Youtube-Kanal finden Sie weitere Videos zum Thema, die sich mit Satire mit islamistischer Gewalt auseinandersetzen.

Weitere Materialien zu den Hintergründen des Dschihads und wie dieser Begriff von Dschihadisten „geklaut“ wurde, bietet unser Filmpaket „Wie wollen wir leben? Filme und Methoden für die pädagogische Praxis zu Islam, Islamfeindlichkeit, Islamismus und Demokratie.“

Weiterführende Literatur und Methoden

Kurt Edler, Umgang mit Radikalisierungstendenzen in Schulen – Rechtliche und pädagogische Hinweise für die Praxis, www.ufuq.de

Leyla Dakhli, Islamwissenschaften als Kampfsport: Eine französische Debatte über die Ursachen dschihadistischer Gewalt, www.ufuq.de

Ringen um die Netzhoheit: Junge Muslim_innen wehren sich gegen dschihadistische Propaganda, www.ufuq.de

Unterrichtsmodul: Wie funktioniert politischer Salafismus? Kritische Auseinandersetzung mit radikal-religiösen Strömungen, zwischentoene.info

Unterrichtsmodul: Bedrohter Mensch. Bedrohte Demokratie. (Antimuslimischer) Rassismus als politische Herausforderung, zwischentoene.info

 

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