Die Reaktionen auf die Ausschreitungen in der Silvesternacht entwerten die Lebenserfahrungen von Jugendlichen, die in prekären Verhältnissen aufwachsen. Jochen Müller kritisiert den herablassenden Blick „von oben“, der die gesellschaftlichen Ursachen der Ausschreitungen ignoriert.
Als ich am Silvesterabend gegen 22:00 Uhr mit dem Fahrrad auf dem Weg zu einer Party im Dreieck von Kreuzberg, Schöneberg und Tempelhof unterwegs war, wunderte ich mich über mich selbst – genauer gesagt über die Freude, die ich beim Anblick der relativ vielen jungen Menschen und Familien verspürte, die bereits um diese Zeit böllerten was das Zeug hielt und in kurzer Folge ganze Raketenbatterien in den Berliner Nachthimmel jagten. Da ich mich ansonsten für eher weniger feuerwerksbegeistert halte, führte ich meine beinahe kindliche Freude ein wenig auch auf die zurückliegenden Jahre der Einschränkungen zurück. Ein paar Stunden später, so gegen ein Uhr nachts, sah ich mich dann mit Freund*innen auf einem Balkon stehen und mit spitzen Jubelschreien eine Gruppe Jugendlicher anfeuern, die es auf einer nahe gelegenen Straßenkreuzung nochmal so richtig krachen ließen.
Von der „Lust am Exzess“ sprach ein paar Tage später der Neuköllner Psychologe Kazim Erdoğan und meinte vor allem die Jugendlichen und jungen Männer, die sich in der Nacht an verschiedenen Stellen der Stadt selbstgefährdende und gemeingefährliche Feuerwerksgefechte geliefert hatten. Er spielte dabei auf deren soziale Deklassierung und auf die Einschränkungen an, die vor allem junge Menschen in den vergangenen Corona-Jahren erfahren mussten. Tatsächlich tönt es ja seit Monaten aus allen Medien, wie belastend sich die Corona-Maßnahmen gerade für Jugendliche – und unter ihnen insbesondere solche aus ohnehin prekären und marginalisierten Lebensverhältnissen – ausgewirkt hätten und wie es an allen Ecken und Enden an psychologischen und sozialarbeiterischen Angeboten mangele. Aber als dann zu Silvester ein sehr kleiner Teil eben dieser Jugendlichen in krassen Formen aus dem Schatten trat, stellten populistische Journalist*innen sowie Politiker*innen gleich ihre Menschlichkeit infrage. Denn was heißt es sonst, einzelnen Menschen oder Gruppen – nicht etwa der Gesellschaft und ihren Institutionen – den Willen und die Fähigkeit zu etwas so Existenziellem wie Integration abzusprechen? Mich schockierte jedenfalls die in vielen Wortmeldungen zum Ausdruck kommende Geringschätzigkeit „von oben“ mehr als das Verhalten der Jugendlichen – auch weil sie teils aufs Wort der jahrhundertealten klassistischen und kolonial-rassistischen Rede über die unzivilisierten „Anderen“ gleichen.
Als „absolute Loser“ titulierte ausgerechnet die Neuköllner Integrationsbeauftragte diese Jugendlichen – eine so verächtliche wie in der Folge viel zitierte Formulierung, die ihr ja vielleicht inzwischen leidtut. Der nicht weniger Neukölln-erfahrene Psychologe Ahmad Mansour mutmaßte im Hinblick auf Übergriffe auf Polizei und Feuerwehr in der Boulevardpresse, dass diese Jugendlichen ganz andere Werte hätten. Andere Werte? Als wer? Als wir? Wer sind denn wir? Und um welche Werte geht es da? Alle Menschen streben nach Anerkennung, Zugehörigkeit und Selbstwirksamkeit. Konkret verlangt es dabei die einen mehr nach Markenklamotten und großen Autos, andere streben nach politischer oder gesellschaftlicher Beachtung und Anerkennung. Wir alle leiden, wenn unsere Grundbedürfnisse nach Anerkennung, Zugehörigkeit und Wirksamkeit – zum Beispiel infolge vielfältiger (sich überlagernder) Diskriminierungs- und Marginalisierungserfahrungen – nicht oder nur ungenügend befriedigt werden. Wenn wir wiederholt und systematisch die Erfahrung machen, nicht beachtet zu werden, nicht selbstverständlich dazuzugehören, als überflüssig zu gelten oder wenn sich materielle Wünsche eben nicht erfüllen lassen, dann reagieren wir hirnphysiologisch in der gleichen Weise darauf, wie wir auf Schmerz reagieren: mit Frust, Ohnmacht, Wut und Aggression. Mit diesen nur allzu menschlichen Reaktionen lernen wir umzugehen, die einen mehr und andere eben weniger, damit das Leben in Gemeinschaft und Gesellschaft funktionieren kann. Was uns also am Ende unterscheidet, sind nicht die Werte, die wir anstreben, sondern es ist in erster Linie der Zugang zu Ressourcen, der uns die Art und Weise ihrer Verwirklichung erst ermöglicht. Das mag zynisch klingen, nach Dreigroschenoper („Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral…“) oder nach Klassenkampf 2.0 – und vielleicht soll es das in gewisser Weise auch.
Gleichzeitig ist klar, dass solche Aktionen wie an Silvester sich nicht rechtfertigen lassen und dass die Täter*innen natürlich individuell Verantwortung für ihr Handeln tragen. Die Ereignisse der Silvesternacht erfordern pädagogische, politische, aber auch gesetzliche und polizeiliche Reaktionen. Die gerade abgelaufene Debatte offenbarte indes, wie disparat und nichtintegriert WIR sind, wie meilenweit viele von UNS von den Realitäten und Lebenswelten der ANDEREN entfernt sind, und wie sehr Ignoranz und Selbstgerechtigkeit gerade von Teilen der gesellschaftlichen Elite selbst zu den laut beklagten Polarisierungen beitragen. Wohltuend waren dann nach ein paar Tagen des Schreckens – zunächst über die Ereignisse selbst und dann über die Art, wie über sie gesprochen wurde – eine ganze Reihe von Stimmen, die besonnener, versöhnlicher und selbstreflektierend kommentierten. Vielleicht trug die Debatte am Ende zur Erkenntnis bei, dass nicht die Bezichtigung von ohnehin schon Abgehängten und Ausgeblendeten, sondern gesamtgesellschaftliche Integration das Gebot der Stunde ist – und zur Sensibilisierung darüber, wie wir übereinander denken, sprechen und urteilen.
Noch ein Gedanke zum Exzess, der auch zu einer relativierenden Einschätzung des Geschehens am Silvesterabend beitragen mag: In den 80er und 90er Jahren waren viele Auseinandersetzungen zwischen jungen Menschen und Repräsentant*innen von Staat und Gesellschaft inhaltlich viel polarisierter und in der Form wesentlich gewaltförmiger. Fragen zu Integration und Migrationshintergrund stellten sich damals nicht. Dafür spielte damals wie heute ein fragwürdiger und ebenfalls eher von jungen Männern geprägter Abenteuer- und Funfaktor eine Rolle. So erläuterte mir vor ein paar Tagen jemand, der sich an die Auseinandersetzungen zwischen Polizei und autonomen Kreisen erinnerte, deren Dynamik so: „Wenn du eine Barrikade baust, dann willst du sie auch halten.“ Ich wünsche mir, uns und Ihnen, dass wir im Jahr 2023 mehr Brücken bauen können als neue Barrikaden errichten werden.