Von postmigrantisch zu postmuslimisch. Ausgrenzende Narrative und institutionelle Imprägnierung als Abwehr gegenüber religiöser Vielfalt am Beispiel des Islams
24. März 2017 | Diversität und Diskriminierung

Auseinandersetzungen über Deutschsein im Einwanderungsland werden in Deutschland vor allem anhand der Kategorie „Muslim“ geführt. Diese in der Folge post-migrantischer Auseinandersetzungen entstandenen Konflikte lassen sich daher in Anlehnung an Naika Foroutans Konzept des „Postmigrantischen“ als postmuslimische Auseinandersetzungen bezeichnen. Auch wenn es vordergründig um religionspolitische Themen geht, steht doch immer wieder die Frage von Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit im Fokus der Debatten. Neben ausschließenden Narrativen stellt dabei die Orientierung des deutschen Rechts auf die christlichen Kirchen eine Herausforderung dar. Eine kritische Betrachtung von Steffen Beigang.

Das Verhältnis von Staat und Religion in Demokratien kann sehr unterschiedlich sein. Während Frankreich ein System weitgehender Trennung, die sogenannte laïcité, praktiziert, verfügt Großbritannien formal über eine Staatskirche (für eine Übersicht: Brugger 2007). Deutschland geht einen Mittelweg, wobei Staat und Religion grundsätzlich zwar getrennt sind, aber in vielfältiger Weise miteinander kooperieren (ausführlich: Mückl 2009). Doch so unterschiedlich die Ausgestaltung des institutionellen Arrangements in westlichen Demokratien auch aussieht, die Garantie der Religionsfreiheit ist eines ihrer Wesensmerkmale. Wenn Bürger/-innen diese Freiheit nutzen und aus der Vielfalt der Bekenntnisse den für sie passenden Glauben finden und formen, so ist religiöse Vielfalt unter der Bedingung der Vielfältigkeit und Unterschiedlichkeit von Menschen keine Besonderheit, sondern stellt Normalität dar.

Wie viele Religionen diese religiöse Vielfalt umfasst, ist in erster Linie eine empirische Frage. Bedenkt man die Entstehungsgeschichte der Religionsfreiheit in Deutschland im Kontext der Religionskriege und des Westfälischen Friedens im 17.Jahrhundert, so bedeutete Religionsfreiheit und religiöse Pluralität hier in erster Line das Zusammenleben von katholischen, reformierten und lutherischen Christen unter einem Landesherren (vgl. Campenhausen 2009, S.600 ff.). Doch selbst dieses Bild greift zu kurz, berücksichtigt es doch nicht den jüdischen Bevölkerungsanteil.

Auslöser der religiösen Diversität der Gegenwart ist vor allem die Globalisierung: Zum einen durch Zirkulation von Wissen über andere Religionen und eine davon ausgehende Anziehungskraft, die zu Konversionen geführt hat, zum anderen in quantitativ ungleich bedeutenderem Ausmaß durch Migrationsbewegungen. Von besonderer Bedeutung für die religiöse Pluralisierung ist hierbei die Einwanderung von Muslimen und Aleviten durch die Anwerbung türkischer Arbeitskräfte ab den

1960er Jahren sowie durch Fluchtbewegungen aus muslimisch geprägten Ländern. Doch wie die baulichen Zeugnisse der Wilmersdorfer Moschee in Berlin eindrucksvoll belegen, herrschte bereits in den 1920er Jahren ein aktives muslimisches Leben in Deutschland – auch wenn der muslimische Bevölkerungsanteil damals deutlich geringer gewesen ist. Diese Zugehörigkeit des Islams zu Deutschland ist jedoch nicht narrativ verankert und wird daher öffentlich kaum wahrgenommen (vgl. Spielhaus 2013, S. 169 f.).²

Aktuell sind Musliminnen und Muslime³ nach den katholischen und evangelischen Christen die größte religiöse Gruppe in Deutschland. Über den muslimischen und alevitischen Bevölkerungsanteil gibt es allerdings lediglich Schätzungen. Die Studie „Muslimisches Leben in Deutschland“ schätzt die Zahl zwischen 3,78 und 4,34 Millionen, wovon 45 % die deutsche Staatsangehörigkeit haben (vgl. Haug u. a. 2009, S. 80; 82).Religiöse Vielfalt der Gegenwart muss jedoch noch deutlich weiter gefasst werden: Betrachtet man die Religionsgemeinschaften mit einem Körperschaftsstatus, so zeigt sich bereits innerhalb des Christentums eine enorme Differenzierung, etwa mit der Alt-Katholischen Kirche, der Neuapostolischen Kirchen, den Zeugen Jehovas u. v. m. Doch auch buddhistische, hinduistische, jesidische und andere Gemeinschaften tragen zur religiösen Vielfalt in Deutschland bei.

Ziel des Beitrags ist es zu erörtern, welche Auswirkungen die Debatten um religiöse Vielfalt, welche sich vor allem als Diskurse um den Islam erweisen, auf die politische und kulturelle Identität Deutschlands haben. Dafür soll zunächst betrachtet werden, was eigentlich hinter den Diskursen über den Islam steckt. Davon ausgehend wird diskutiert, inwieweit Konstruktionen nationaler und kultureller Identität zur Abwehr des Islams dienen.

Muslimisierung des Integrationsdiskurses

Debatten unter dem Leitmotiv „Religiöse Pluralisierung“ zeigen bei genauerem Hinsehen häufig eine Fokussierung auf den Islam. Riem Spielhaus (2006; 2013) weist darauf hin, dass die gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Diskurse lange anhand von Kategorien wie „Gastarbeiter“,

„Ausländer“ und „Türken“ geführt wurden. Erst mit Beginn der 2000er Jahre sei die Kategorie „Muslim“ relevant geworden. Ursächlich dafür sei, dass sich diese Kategorien als überholt erwiesen, seit durch die Änderung des Staatsbürgerschaftsrechts viele der Migrantinnen und Migranten die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen haben. Spätestens mit den Terroranschlägen des 11. Septembers 2001 habe sich dann in Deutschland die Kategorie „Muslim“ als eine wichtige Distinktionslinie durchgesetzt.

Zeitlich fällt dies zusammen mit dem Beginn dessen, was Naika Foroutan (2016) eine postmigrantische Gesellschaft nennt. Als Ausgangspunkt nimmt Foroutan hierfür die politische Anerkennung, ein Einwanderungsland zu sein, wie sie das Schlussdokument der Süssmuth-Kommission feststellt. In der Folge würden Aushandlungen um Rechte, Positionen und Selbstverständnisse eine neue Dimension annehmen: Einerseits haben Forderungen nach Gleichstellung ein neuartiges diskursives Fundament, andererseits kommt es zu einer Polarisierung der Positionierungen und zu neuen Allianzen. Postmigrantisch ist dabei das Verschwimmen der Trennlinie zwischen Migranten und Nichtmigranten in den gesellschaftlichen Aushandlungen, wobei die thematische Orientierung an Migrantinnen und Migranten Omnipräsenz gewinnt.

Tatsächlich sind die postmigrantischen Auseinandersetzungen geprägt von Debatten um den Islam in Deutschland. Dabei geht es teilweise direkt um religionspolitische Fragestellungen, etwa um Kopftücher muslimischer Lehrerinnen oder um die religiös begründete Beschneidung von Jungen. Daneben treten jedoch auch Fragen auf, die eher den Bereich gesellschaftlicher Integration betreffen und keinen direkten Religionsbezug haben: So werden Diskussionen um Werte, um Gewalt und Straftaten sowie um Integration etwa in den Arbeitsmarkt häufig mit Blick auf Muslime geführt, obwohl Konflikte in diesen Bereichen ebenso in der nichtmuslimischen deutschen Bevölkerung wie auch bei nichtmuslimischen Ausländerinnen und Ausländern auftreten. Muslime werden dabei nicht als ein gleichberechtigter Teil der deutschen Gesellschaft begriffen, sondern als Gruppe, die es zu integrieren – oder besser noch: zu assimilieren – gilt.

Wie wenig „muslimisch“ folglich in diesem Diskurs eine religiöse Kategorie darstellt, zeigt sich eindrucksvoll an der Deutschen Islamkonferenz, eines vom Bundesinnenministerium organisierten Austauschtreffens zwischen staatlichen Gremien und muslimischen Vertretern. Ergänzt werden die muslimischen Verbände hier jedoch um „nicht religiöse Muslime“ (Schäuble 2006, S.5150).6 Mounir Azzaoui interpretiert dies als „den Versuch von staatlicher Seite, Religion zu ethnisieren“ (2011, S. 261).

Muslimische Religion wird in der postmigrantischen Gesellschaft weniger als religiöse Zugehörigkeit denn vielmehr als Proxy für eine als problematisch angesehene gesellschaftliche Gruppe verwendet. Die Kategorie „muslimisch“ fungiert als eine Kennzeichnung des Anderen und ersetzt Kategorien wie „Ausländer“ oder „Türke“, die sich mit einem veränderten Staatsbürgerschaftsrecht als faktisch überholt erweisen. Was folgt, ist die Gegenüberstellung von „guten Migranten“ – also jenen, die als westlich gelesen werden und mit denen in der öffentlichen Wahrnehmung keine Probleme verbunden werden – und jenen, die als muslimisch gesehen werden. Dabei folgt die Wahrnehmung als muslimisch – erkennbar rassistisch (vgl. Shooman 2014, S. 65 ff.) – an phänotypischen Eigenschaften, mit dem Effekt, dass auch viele Menschen als muslimisch gelesen werden, die eigentlich christlich, atheistisch, hinduistisch sind oder eine andere religiöse Verwurzelung haben.

Nimmt man das Konzept des Postmigrantischen ernst, so stellt sich die Frage, ob man in dessen Fortentwicklung nicht zum Ergebnis kommen muss, gegenwärtige Debatten haben sich vom Migrantischen dem Muslimischen zugewandt. Auch hier gibt es den Moment der Anerkennung, wie er in der Aussage, der Islam sei Teil Deutschlands, zu finden ist. Diese Feststellung wurde bereits 2006 vom Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble anlässlich der ersten Deutschen Islamkonferenz getroffen (vgl. Schäuble 2006, S. 5149) und später von Bundespräsident Christian Wulff und Bundeskanzlerin Angela Merkel prominent aufgegriffen. Auch die weiteren von Foroutan (2016) genannten Punkte lassen sich anwenden: In der Folge der Anerkennung kam es zu langwierigen und schwierigen Aushandlungen, die bereits erste Lösungen hervorgebracht haben. Beispiele sind hier die Fortschritte beim islamischen Religionsunterricht, Staatskirchenverträge mit muslimischen Verbänden oder dem Friedhofsrecht. Ambivalenzen haben diese Debatten geprägt: So ist den beteiligten Akteuren bewusst, dass das bestehende Staatskirchenrecht nur aufrecht zu erhalten ist, wenn es gelingt, auch den Islam darin zu integrieren (so etwa Mückl 2009, S. 788), und dass die Gleichbehandlung der Religionen eine demokratische Notwendigkeit darstellt. Gleichzeitig bestehen in der Gesellschaft Ängste angesichts von Attentaten, bei denen sich die Täter auf den Islam berufen, aber auch vor einer gefühlten „Überfremdung“ und der Erosion bestehender Werte. Die Debatten um Zugehörigkeit und Regeln des Miteinanders werden hitzig geführt, wobei es analog zu postmigrantischen zu postmuslimischen Allianzen kommt, die sich nicht durch subjektive Bezüge, sondern politischgesellschaftliche Haltungen definieren.

Abwehr von Musliminnen und Muslimen als Verneinen von Zugehörigkeit

m Kern postmuslimischer Auseinandersetzungen steht die Frage der Zugehörigkeit bzw. Nicht-Zugehörigkeit. In der Studie „Deutschland Postmigrantisch“ (Foroutan u. a. 2014)7 wurde danach gefragt, wie wichtig einzelne Kriterien seien, um deutsch zu sein.8 Deutsch sprechen zu können und die deutsche Staatsbürgerschaft zu besitzen wurden dabei von einer deutlichen Mehrheit als wichtig oder sehr wichtig benannt. Doch halten es auch 37,8 % für wichtig, auf das Kopftuch zu verzichten (Foroutan u. a. 2014, S. 25 ff.). Diese wahrgenommene Unvereinbarkeit der Kategorien „deutsch“ und „muslimisch“ konnte noch an einer weiteren Stelle in der Studie aufgezeigt werden: Nach der Einschätzung dreier Items („Muslime sind aggressiver als wir.“, „Muslimische Eltern sind genauso bildungsorientiert wie wir.“, „Wir sollten Muslimen mehr Anerkennung entgegenbringen.“), in denen der Kategorie „Muslim“ ein inkludierendes „wir“ gegenübergestellt wurde, wurden die nichtmuslimischen Befragten gebeten, zu sagen, an wen sie bei dem „wir“ gedacht hätten. Im Kern zeigt sich, dass ca. 40 % der Befragten eine Komplementärkategorie mit „deutsch“ gebildet haben (ebd., S. 32).9 Offenbar ist die Gegenüberstellung von „deutsch“ und „muslimisch“ inzwischen tief verwurzelt und konnte im Rahmen der Studie schnell aktiviert und reproduziert werden.

Diese Wahrnehmung, die bei vielen Befragten verankert ist, bildet zugleich einen Rahmen für rechtspopulistische Demonstrationen wie PEGIDA u. a. Auch hier werden Musliminnen und Muslime aus der nationalen Identität herausdefiniert und als Fremdkörper wahrgenommen. Dabei wird ihnen zugleich vorgeworfen, die Gesellschaft fundamental umgestalten zu wollen. Indem bei diesem als Islamisierung bezeichneten Zerrbild sämtliche kulturellen und politischen Unterschiede zwischen Deutschland und islamischen Staaten wie Iran oder Saudi-Arabien auf den Islam zurückgeführt werden, wird der Islam agitatorisch aus dem Kanon des religiösen Pluralismus in Deutschland ausgebürgert. Doch mit der so entstandenen Outgroup konstruiert die Bewegung sich nicht nur ein Feindbild, gleichzeitig wird auch die eigene Identität neu erfunden: Das christliche Abendland, welches gelegentlich um das Attribut „jüdisch“ ergänzt wird (vgl. Bax 2015, S. 37 ff.). Diese rhetorische Hülse zeigt vor allem, wer nicht dazu gehört: Der Islam.

Doch nicht nur im Rahmen politischer Kampagnen findet eine solche Ausgrenzung statt, vielmehr stellt sie den Nährboden für vielfältige Diskriminierungen dar, die Muslime erleben (vgl. Néve 2013, S.204 ff.). Diese gehen nicht nur von einzelnen Individuen aus, sondern können auch in Gesetzen enthalten sein. So haben viele Länder versucht, nach dem ersten Kopftuchurteil des Bundesverfassungsgerichts (2003) muslimischen Lehrerinnen das Tragen von Kopftüchern gesetzlich zu untersagen. Zur Umsetzung war jedoch ein generelles Verbot des Tragens religiöser Symbole und Kleidungsstücke für Lehrer/-innen notwendig. Um zu verhindern, dass es auch christliche Lehrer/-innen trifft, fügten einige Länder Ausnahmen ein: In Nordrhein-Westfalen hieß es etwa „Die Wahrnehmung des Erziehungsauftrags nach Artikel 7 und 12 Abs. 6 der Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen und die entsprechende Darstellung christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte oder Traditionen widerspricht nicht dem Verhaltensgebot nach Satz 1.“ (§ 57 Abs. 4 Satz 3 SchulG NRW a. F.) Dieser Satz wurde vom Bundesverfassungsgericht 2015 als mit den Diskriminierungsverboten des Grundgesetzes „unvereinbar und nichtig“ (BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 27. Januar 2015, 1 BvR 471/10) eingestuft.

An dieser Formulierung des nordrhein-westfälischen Schulgesetzes lässt sich Folgendes aufzeigen: Erstens wird deutlich, dass die Wahrnehmung des Islams als etwas Fremdes, was es abzuwehren gilt, weit in die Gesellschaft und Politik vorgedrungen ist. Dafür wird in Kauf genommen, die Neutralität des Staates einzuschränken, indem die Identifikation von Lehrerinnen und Lehrern mit der einen Religion erlaubt, mit allen anderen aber verboten wird.

Betrachtet man die dazugehörenden Debatten, wird auch klar, dass die Stoßrichtung vor allem gegen den Islam gerichtet ist. Zweitens wird eine sehr starke Orientierung am Christentum sichtbar. Diese ist sowohl normativer Natur, wenn christliche Symbole etwa explizit als Ausnahme zugelassen werden, als auch historischer Natur, wenn auf den Verfassungstext verwiesen wird. So heißt es dort etwa für die Gemeinschaftsschulen, dass dort die „Kinder auf der Grundlage christlicher Bildungs- und Kulturwerte in Offenheit für die christlichen Bekenntnisse und für andere religiöse und weltanschauliche Überzeugungen gemeinsam unterrichtet und erzogen“ werden (Art. 12 Abs. 3 Satz. 1 LVerf NRW). Was hier zum Vorschein kommt, ist ein Verständnis religiöser Pluralität, welches sich vor allem an den christlichen Konfessionen orientiert. Was im historischen Kontext verständlich erscheint, wirkt sich in der Gegenwart verengend aus. Das in der Verfassung angelegte nicht gleichberechtigte Mitdenken nichtchristlicher Religionen diente im Fall des Gesetzes zum Kopftuchverbot als normativer Bezugspunkt und Rechtfertigung für deren Diskriminierung.

Diese historisch verwurzelten Orientierungen finden sich im Staatskirchenrecht an verschiedenen Stellen (vgl. Muckel 2010), so etwa bei der Frage, welche Voraussetzungen eine Religionsgemeinschaft erfüllen muss, die gemäß Art. 7 Abs. 3 GG Religionsunterricht anbieten will (vgl. hierzu etwa Schäuble 2009; Wall 2013). Ein Grundproblem ist dabei die andere Organisation des Islams; im Gegensatz zu den christlichen Kirchen kennen die Muslime keine formale Mitgliedschaftsstruktur innerhalb ihrer Religion. Die Bildung religiöser Verbände, in denen verschiedene Moscheevereine zusammengeschlossen sind, stellt hierbei bereits eine von den Musliminnen und Muslimen erbrachte Anpassungsleistung dar. Die Möglichkeit der Anerkennung solcher Dachverbände war lange umstritten und musste erst gerichtlich durchgesetzt werden. Doch auch innerhalb der Verbände ist es schwer, die Mitgliedschaft zu benennen, da in vielen Moscheevereinen nur eine Person aus der Familie Mitglied ist, aber die gesamte Familie die Angebote nutzt. Dadurch fällt es den jeweiligen staatlichen Institutionen schwer, die potentielle Reichweite eines Religionsunterrichts zu bestimmen. Da viele der Verbände nicht entlang religiöser Strömungen innerhalb des Islams orientiert sind, stehen sie auch miteinander im Wettbewerb. So fehlte es den Ländern lange an einheitlichen Ansprechpartnern, die analog zu den christlichen Kirchen als religiöser Partner für einen islamischen Religionsunterricht dienen können (vgl. Azzaoui 2011, S. 255 ff.). Erst in den letzten Jahren gab es hier deutliche Fortschritte mit der Anerkennung zweier Verbände in Hessen als Religionsgemeinschaft im Sinne des Art. 7 Abs. 3 GG und der Gründung von Beiräten in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen, die die dortigen Unterrichtsformen jeweils begleiten.

Fazit

Die postmuslimischen Auseinandersetzungen der Gegenwart bilden den wichtigsten Bestandteil des Diskurses zu religiöser Pluralität in Deutschland. Hinter den religionspolitischen Fragen, die dabei diskutiert werden, stehen vielfach Fragen der Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit. Hier drückt sich die fehlende narrative Verankerung muslimischen Lebens in Deutschland aus. Die Entdeckung des muslimischen Lebens in Deutschland erfolgte aus dem Blick auf Gastarbeiter/-innen, Ausländer/-innen und Türkinnen und Türken heraus. In dieser narrativen Traditionslinie besteht eine Gegenüberstellung zwischen „deutsch“ und „muslimisch“ trotz veränderter Realität fort. Noch weitergehend wird mit der Konstruktion des christlich(-jüdischen) Abendlandes ein Eigenbild kreiert, dessen vordringliches Ziel die Abgrenzung zum „Morgenland“ und damit zum Islam und den Musliminnen und Muslimen ist. Dass die religionspolitischen Fragen rund um den Islam in Deutschland immer wieder mit Zugehörigkeitsdebatten verknüpft sind, liegt darüber hinaus auch in der tiefen Verankerung von christlichen Inhalten und Strukturen in deutschen Institutionen bis hin zu Gesetzen. Formulierungen im Grundgesetz und in den Landesverfassungen sind Kinder ihrer Zeit und des damaligen Verständnisses von religiöser Pluralität. Formale Offenheit darf dabei nicht darüber hinwegtäuschen, dass Konzepte, Begrifflichkeiten und Anforderungen sich vorwiegend an den christlichen Kirchen orientieren.

Inwieweit diese Befunde zu den postmuslimischen Debatten auf Anerkennungskonflikte bezüglich anderer Religionen übertragbar sind, muss an dieser Stelle offen bleiben. Doch zumindest manches Grundsätzliche verdient Beachtung:

1. Das religionspolitische Feld ist kein unbeschriebenes Blatt, es hat eine Geschichte, in der es entstanden ist und sich entwickelt hat. Bestehende Institutionen kritisch bezüglich Notwendigkeit und Veränderlichkeit unter anderen Anforderungen zu hinterfragen, ist notwendig, sollen Religionen, die anders sind, integriert werden.

2. Eine Religion ist nicht mehr und nicht weniger als eine Religion. So banal und tautologisch diese Feststellung ist, so elementar ist sie doch. Eine Religionszugehörigkeit lässt sich weder an phänotypischen Merkmalen ablesen noch sind alle Migranten Muslime oder alle Muslime Migranten. Vorsicht ist auch dann geboten, wenn Religionszugehörigkeit zum Synonym für Probleme einer Gesellschaft wird: Sexismus, Antisemitismus, Gewalt und Armut sind Probleme, die sowohl bei Christen, Muslimen, Atheisten als auch allen anderen auftreten. Die Probleme allein bei den anderen zu verorten, stellt damit keine Lösung dar. Nicht alles, was also unter dem Begriff Religion diskutiert wird, gehört auch dorthin.

3. Narrative erfüllen die wichtige Aufgabe, Zugehörigkeit oder Nicht-Zugehörigkeit herzustellen. Wichtig ist dabei sowohl der Inhalt des Narrativs als auch, wie er erzählt wird. Ist „deutsch“ als Gegenbegriff zu einer Religionsbezeichnung im Narrativ verankert, so formt dies den latenten Bedeutungsinhalt einer Unvereinbarkeit.

Dieser Artikel erschien zuerst in der Zeitschrift „Außerschulische Bildung“ 1/2016, S. 12-17. Die Ausgabe kann unter adb.de erworben werden. Wir danken dem Autor und den Herausgebern für die Erlaubnis, den Beitrag hier zu veröffentlichen.


Anmerkungen

¹ Für wertvolle Hinweise und Anregungen danke ich Uta Beigang, Dorina Kalkum, Martin Reinköster, Hannah Seidl und Katja Wegmann.

² Für eine Darstellung ausgewählter Versuche einer narrativen Verankerung vgl. Wokoeck 2009.

³ Dieser Artikel untersucht die Perspektive der nichtmuslimischen Mehrheitsgesellschaft, die die Binnendifferenzierung des Islams kaum wahrnimmt. Wenn im Folgenden von dem Islam oder den Musliminnen und Muslimen gesprochen wird, dann in Kenntnis dieser Vielfalt, die im Kontext des Artikels jedoch nicht relevant ist.

4 Genau genommen wollen Haug u. a. damit nicht die Gesamtzahl aller Musliminnen und Muslime schätzen, sondern lediglich jene, die eine Staatsbürgerschaft oder einen Migrationshintergrund eines der von ihnen betrachteten 50 Herkunftsländer haben.

Damit liegt der analytische Fokus des Konzepts auf postmigrantischen Aushandlungen, in der Folge könnte der Begriff der postmigrantischen Gesellschaft den normativen Bestandteilen vorbehalten bleiben.

In der ersten Phase wurden etwa die erklärte Islamkritikerin Necla Kelek eingeladen, in der zweiten und dritten Phase die Türkische Gemeinde in Deutschland.

Für die Studie wurden insgesamt 8.270 Menschen Anfang 2014 telefonisch befragt. Es handelt sich um eine Dual-Frame-Stichprobe mit zufällig gezogenen Nummern und Last-Birthday-Verfahren. Bei den im Folgenden genannten Ergebnissen handelt es sich um gewichtete Daten (vgl. Beigang u. a. 2014).

Aufgrund eines Fragebogensplits erhielten nur 4.205 Personen diese Fragen. Verwendet wurde eine vierstufige Likert-Skala.

Weiterhin genannt wurden etwa das persönliche Nahumfeld oder die eigene Person, nur sehr selten wurde dagegen auf Komplementärkategorien wie Nichtmuslime oder Christen Bezug genommen.

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