Verschwörungstheorien im Netz: Was macht sie so attraktiv?
26. Februar 2018 | Diversität und Diskriminierung, Jugendkulturen und Soziale Medien, Radikalisierung und Prävention

Deutschland sei kein Staat, sondern eine GmbH, die Anschläge vom 11. September 2001 von den USA inszeniert und der „IS“ eine Erfindung des Westens, um den Muslim_innen zu schaden. Solche Verschwörungstheorien begegnen uns auch in unserer Praxis. Auf die Frage, woher diese Behauptungen stammen, kommt dann oft: „Aus dem Internet!“ Psychologin Dorothee Scholz erklärt im Interview mit der Online Civil Courage Initiative, wie Verschwörungstheorien funktionieren und was sie so attraktiv macht.

OCCI: Die Illuminaten, die Weisen von Zion oder die Teilnehmer der Bilderberger-Konferenz ziehen hinter den Kulissen die Fäden; um die Kennedy-Ermordung, 9/11 und #pizzagate ranken sich zahlreiche Mythen; KenFM, das Compact-Magazin und Alex Jones erfreuen sich großer Beliebtheit – die Liste an weit verbreiteten Verschwörungstheorien und Verschwörungstheoretikern ist lang. Welche psychologischen Erklärungsansätze gibt es dafür, dass Menschen an Verschwörungstheorien glauben?

Dipl.-Psych. Dorothee Scholz: Verschwörungstheorien sind für Menschen funktional, das heißt, sie erfüllen wichtige psychische Grundmotive wie z.B. den Wunsch nach Struktur, Verstehbarkeit von Ereignissen oder Kontrollgefühlen angesichts einer immer komplexer werdenden Welt. Die Neigung zu Verschwörungstheorien wird durch Risikofaktoren wie Existenzunsicherheit, Hilflosigkeitserleben, ein geringes Selbstwertgefühl und soziale Isolation begünstigt, da die Illusion von Ordnung, Gruppenzugehörigkeit und nicht selten auch die Möglichkeit aufwertender Selbstinszenierungen versprochen wird.

Dies erklärt auch den Umstand, dass die mangelhafte oder sich gegenseitig widersprechende Logik dieser Konzepte keine wirkliche Rolle spielt – ihre „psychische Nützlichkeit“ ist so hoch, dass der Inhalt nachrangig ist und Gegenrede auf der Sachebene deshalb oft scheitert. Um wirksam gegen Verschwörungstheorien vorzugehen, bedarf es eines stärkeren Blickes für die psychischen Defizite und Grundmotive einer Gesellschaft. Aus therapeutischer Sicht würde man sagen, dass Verschwörungstheorien eine problematische Bewältigungsstrategie für einen nachvollziehbaren inneren Leidensdruck darstellen.

OCCI: Über das Internet und die Sozialen Medien verbreiten sich selbst abstruseste Theorien wie die der „Flat-Earth“-Bewegung, deren Anhänger davon ausgehen, dass die Erde eine Scheibe ist. Gibt es heute durch das Internet mehr Anhänger von Verschwörungstheorien oder sind diese lediglich sichtbarer als früher?

Dipl.-Psych. Dorothee Scholz: Durch das Internet rücken auf der Welt stattfindende Ereignisse näher an unseren Wahrnehmungshorizont, die Folgen einer globalisierten, individualisierten Gesellschaft werden stärker spürbar und stehen nicht immer im Verhältnis zu den verfügbaren Bewältigungsmöglichkeiten einer Person. Die Attraktivität einfacher Lösungen und Schwarz-Weiß-Erklärungen, wie sie Verschwörungstheorien anbieten, steigt dadurch – selbst, wenn sie unrealistisch oder erwiesenermaßen falsch sind. Auch ist die Verbreitung und Aufrechterhaltung von Verschwörungstheorien im Internet besonders gut möglich, da die Bildung von digitale Echokammern die räumlich oft vereinzelten AnhängerInnen besser zusammenbringt, Raum für Gruppendynamiken bietet und einen selektiven Austausch ohne die mäßigenden Einflüsse einer kritischen Umgebung ermöglicht.

OCCI: Welche Funktion haben Verschwörungstheorien für extremistische Gruppen? Für welche Ideologien spielen sie eine besonders wichtige Rolle?

Dipl.-Psych. Dorothee Scholz: Extremistische Gruppen nutzen Verschwörungstheorien oft strategisch, um klare Feindbilder zu konstruieren und die diffusen Frustrationen anfälliger Menschen auf ein konkretes Ziel in ihrem Sinne zu lenken. Die Suggestion einer großen Bedrohung durch „den Feind“ mobilisiert bzw. radikalisiert AnhängerInnen und macht sie manipulierbarer. Gleichzeitig wird durch die Vereinfachung der Welt auf Gut und Böse die eigene Seite idealisiert und zum „Retter“ einer idealen Gesellschaft gemacht, was eine unkritische Selbstwerterhöhung ermöglicht und Gewalt gegen den Gegner als „Selbstverteidigung“ legitim erscheinen lässt. Da sich gesellschaftliche Probleme durch diese Strategie jedoch unweigerlich verschärfen und an den eigentlichen Ursachen vorbei gehandelt wird, nimmt die Frustration weiter zu und ein Teufelskreis wird in Gang gesetzt. Vor allem islamistische und rechtsextremistische Gruppen, die ja in ihrer psychologischen Grundstruktur sehr ähnlich sind, profitieren bei der Rekrutierung und im Streben nach gesellschaftlichem Einfluss gezielt von der Anziehungskraft solcher Konstrukte.

OCCI: Wann werden Verschwörungstheorien problematisch? Welche Verbindung sehen Sie zwischen Verschwörungstheorien, Gewalt und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit?

Dipl.-Psych. Dorothee Scholz: Problematisch werden Verschwörungstheorien an einem Punkt, der für das Individuum selbst oder für das Umfeld einen Leidensdruck erzeugt. Ersterer ist oft schneller erreicht, da die Einengung der Wahrnehmung auf unrealistische Erklärungsmuster das Erlernen sinnvoller Bewältigungsstrategien verhindert und Bedrohungsgefühle verstärkt. Spätestens, wenn sich die latenten Störungsgefühle in Aggression umwandeln und nach außen gerichtet werden, ist eine Grenze erreicht, ab der das Konstrukt zu einer echten Gefahr werden kann. Verschwörungstheorien können Gewaltpotentiale aktivieren und im Rahmen von Projektionsprozessen auf bestimmte Menschen, Institutionen oder Menschengruppen lenken. Gerade Gruppen, deren Diskriminierung oder Bekämpfung bereits im kulturellen Gedächtnis verankert ist, geraten so leichter ins Visier.

OCCI: In der aktuellen Debatte innerhalb der Partei „Die Linke“ um die Preisverleihung an Ken Jebsen äußerten Jebsens Unterstützer die Sorge, dass der Begriff „Verschwörungstheoretiker“ ein „Kampfbegriff“ wird, mit dem Dissens und kritische Fragen unterdrückt werden sollen. Sehen Sie diese Gefahr ebenfalls? Wird der Begriff „Verschwörungstheoretiker“ zu häufig verwendet?

Dipl.-Psych. Dorothee Scholz: Ob die Nutzung des Begriffs sinnvoll ist, hängt vom Kontext und Ziel der Verwendung ab. Zur Markierung bestimmter Phänomene in gesellschaftlichen Analysen und im wissenschaftlichen Bereich ist er absolut notwendig. In gesellschaftlichen Diskursen, die vielleicht eine Deradikalisierung und Aufklärung bestimmter Bevölkerungsgruppen zum Ziel haben, werden solche Bezeichnungen eher als Stigmatisierung empfunden und führen zu noch tieferen Gräben zwischen den Fronten. Die als „Kampfbegriffe“ empfundenen Bezeichnungen lösen dann auf beiden Seiten automatisierte Reaktionen und Beißreflexe aus, die eine sachliche Themenverhandlung völlig blockieren. Zusätzlich werden Opfernarrative von Verschwörungstheoretikern bedient und der Abspaltungsprozess damit unwillentlich unterstützt.

OCCI: Vielen Dank für das Gespräch!

Copyright © ISD (2017). Dieses Interview erschien zuerst im Newsletter der Online Civil Courage Initiative. Wir danken der Autorin und dem Verlag für ihr Einverständnis, das Interview hier zu veröffentlichen.

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