Mehr als Sport: Die Fußballerinnen von Türkiyemspor Berlin
20. Juli 2015 | Diversität und Diskriminierung, Gender und Sexualität, Jugendkulturen und Soziale Medien

Der Verein Türkiyemspor Berlin e.V. hat seit 2004 auch eine Mädchen- und Frauenabteilung. Fußball steht hier im Mittelpunkt, aber den Aktiven geht es um mehr. Der Sport ist aus Sicht des Vereins auch eine Chance, um über alltägliche Fragen von Mädchen und Frauen ins Gespräch zu kommen und sich in die Gesellschaft einzubringen. Aylin Yavaş traf die beiden Leiter_innen Giovanna Krüger und Murat Doğan und hat mit ihnen über „bunten“ Frauenfußball gesprochen.

Frauenfußball genießt bei Weitem nicht die gleiche Wertschätzung wie Männerfußball. Wie entstand die Idee, in eurem Verein auch ein Angebot für Mädchen und Frauen zu schaffen?

Murat: Als ich vor 11 oder 12 Jahren die Geschäftsstelle des Vereins eröffnet habe, kamen von einigen Vätern Anfragen, ob wir auch Fußball für Mädchen anbieten. Das waren im Übrigen Väter der „ersten Generation“, bei denen man das vielleicht gar nicht erwartet hätte. So sind wir dann auf die Idee gekommen.

Giovanna: Wir wollten aber auch die Begeisterung der Mädchen für den Fußball auffangen und nachhaltig Fußball für Mädchen anbieten. Angefangen haben wir mit einem D-Mädchen Team, das waren damals 4 bis 5 Mädchen zwischen 9 und 11 Jahren. Die konzeptionelle Überlegung war, dass wir mit jungen Mädchen anfangen und das Team dann von Jahr zu Jahr weiter aufbauen. Die Kleinen werden größer, wachsen in die nächste Altersklasse rein und so weiter.

Murat: Anfangs haben wir keine Frauen gefunden. Es gab zwar Frauen, die Fußball gespielt haben, aber keine Trainerinnen. Ich bin also eher aus der Not heraus mit dabei geblieben. Aus der Not ist dann allerdings eine Tugend geworden.

Giovanna: Das Ziel war und ist, Frauen als Trainerinnen einzusetzen, um Vorbilder zu schaffen. Dass unser Verein mit mittlerweile knapp 170 Mädchen und Frauen so breit aufgestellt ist, liegt auch daran, dass wir mittlerweile eine große Anzahl an Trainerinnen haben, die das Training anbieten.

Murat: Davon sind wir auch nach mittlerweile 12 Jahren nicht abgekommen: Diese Idee von Frauenfußball mit Frauen für Frauen setzen wir jetzt eben um, in dem wir selbst Frauen ausbilden. Bei uns arbeiten Trainerinnen, die in unserem Verein groß geworden sind und qualitativ richtig guten Fußball spielen. Und natürlich sind die jüngeren Mädels dann total fixiert auf die, die gucken sich total viel von denen ab.

Giovanna: Ein anderes Problem waren zu Beginn auch Plätze und Spielmöglichkeiten. Wir sind da natürlich in eine Männerwelt eingedrungen. Das wurde nicht als Teilen angesehen, sondern eher als würden wir ihnen etwas wegnehmen. Aber mit den Jahren hat dann auch das geklappt. Wir haben da viel gekämpft. Nach und nach konnten wir dann immer weitere Jugend-Teams gründen, weil unser Ansatz gut aufgenommen wurde. Denn unsere Ziele gehen ein Stück weit über den eigentlichen Sport hinaus: Wir wollen Mädchen zusammenzubringen und zum Kennenlernen einladen. Bei uns treffen sich ganz unterschiedliche Mädchen: arm, reich, dick, dünn, Talente, Mädchen die kaum Bewegungsaffinität haben, schwarz, weiß – eben alles. Und das ist wirklich sehr schön, das hat eine ganz besondere Magie hier.

Ganz einfach gefragt: Warum sollten junge Mädchen denn Fußball spielen?

Giovanna: Müsste ich es ganz kurz zusammenfassen, würde ich sagen: Selbstachtung, ganz viel Selbstachtung. Die Mädels sind oft sehr eingebunden in den Schulalltag und ihr Familienleben. Ich finde es aber wichtig, dass sie außerhalb von Institutionen wie Schule oder Familie unterwegs und in einem Team aktiv sind, dass sie andere Menschen treffen, die sie sonst vielleicht nicht treffen würden oder mit denen sie sich sonst nicht austauschen würden.
Familie und Schule können bestimmte Sachen auch nicht in gleichem Maße wie Fußball bieten: Bewegung, mal den Kopf frei kriegen, Freiräume schaffen, eigene Erfolge feiern und Spaß haben, sich auch mal durchsetzen müssen, auch mal die Zähne zusammenbeißen, kämpfen, durchatmen und weitermachen, obwohl man nicht mehr kann – all diese Dinge prägen und stärken die Mädchen auf jeden Fall.

Euer Verein ist auch bekannt für seine sozialen Projekte. Wie gestaltet ihr die Arbeit in diesem Bereich?

Giovanna: Erstmal haben wir hier ganz viele Mädchen am selben Ort zur selben Zeit, dann tauchen zwangsläufig auch Geschichten rund um Gewalt, Unterdrückung, Misshandlung und so weiter auf. Das ist leider einfach so. Es liegt dann an uns, was wir mit diesen Geschichten machen. Manchmal kommt der Freund, der etwas verbieten will, dann der Bruder, der Vater und so weiter. Das fordert uns heraus, mit diesen Themen auch umzugehen. Wir greifen also das auf, was gerade um uns herum passiert und arbeiten dann damit. Wir haben nicht die Zeit, uns lange Konzepte zu überlegen und dann auch noch Projektgelder zu beantragen. Wir machen vieles spontan aus der Hosentasche heraus: Wir agieren, wir machen, wir tun.

Murat: Die Mädels kommen zu uns mit all ihren Problemen. Da kannst du nicht einfach sagen: Ich bin nur ein Sportverein, ich habe damit nichts zu tun. An den Hatun Sürücü Tagen gedenken wir gemeinsam Hatun und veranstalten ein Fußball-Turnier.(Die 23-jährige Berlinerin Hatun Sürücü wurde am 7. Februar 2005 von ihrem Bruder wegen ihres unabhängigen Lebensstils ermordet, ufuq.de) Teil des Turniers ist immer auch eine von unseren Spielerinnen entwickelte und durchgeführte Aktion. Zum Beispiel haben wir vor ein paar Jahren mitten in Kreuzberg am Kottbusser Tor eine Plakat-Aktion veranstaltet: Ganz viele Fragen wurden auf Plakate gedruckt und dann dort ausgehangen. Das waren dann ziemlich provokante Fragen, zum Beispiel: „Warum darf mein Bruder mehr als ich?“, „Warum darf ich nicht lieben wen ich will?“ oder „Bin ich weniger wert?“ Insgesamt hatten wir 15 solcher Fragen entwickelt und in fünf Sprachen ausgehangen. Viele Leute waren sehr interessiert und standen dann vor diesen Fragen und wir konnten an den Reaktionen beobachten, dass da viel in den Köpfen passiert.

Giovanna: Auch als wir mit den Mädchen zusammensaßen und die Fragen entwickelt haben, ist da bei den Mädels richtig viel passiert. Dieses Jahr war es ähnlich: Wir haben Rollenspiele konzipiert, in denen es verschiedene, immer wechselnde Charaktere gab und ein immer wiederkehrendes Mädchen, das Fußball spielen will. Da tauchte dann mal der coole Bruder, mal der strenge Bruder auf, mal der Vater, der sich um nichts kümmert und mal der Vater, der sehr streng ist. Auch das hat den Mädchen viel Spaß gemacht und zum Nachdenken angeregt.

Murat: Im Prinzip ist Ausgrenzung das große Thema, das uns immer wieder aufs Neue beschäftigt. Zum Beispiel auch Homophobie – wir arbeiten da mit verschiedenen Organisationen zusammen.

Heißt das, der Verein zeigt den Mädchen auch, wie sie sich gesellschaftlich engagieren können?

Giovanna: Ja, auf jeden Fall. Als zum Beispiel die große Diskussion um die immer weiter steigenden Mietpreise in Kreuzberg losging, da sind wir mit unseren Fußballerinnen immer auf die Straße gegangen. Das haben wir natürlich auch gemacht um ihnen zu zeigen, dass sie politisch aktiv werden können. Wir haben ihnen auch aufgezeigt, dass sie direkt davon betroffen sind, dass ihre Eltern diesen Bezirk mit aufgebaut haben und dass sie ganz oft zu denjenigen gehören, die jetzt verdrängt werden. Und es ging uns auch darum, ihnen zu zeigen, dass sie keine Angst haben müssen vor Demonstrationen, sondern dass sie sich die Forderungen einfach anhören und sich, wenn sie wollen, engagieren können.

Der Verein arbeitet auch mit Netz gegen Nazis zusammen. Kann Fußball einen Beitrag dazu leisten, dass Mädchen sich im Alltag gegen Rassismen und Vorurteile wehren können?

Murat: Schwer zu sagen. Auf jeden Fall kann Fußball auf diese Vorurteile und Rassismen aufmerksam machen.

Giovanna: Die Mädchen sammeln Erfahrungen im Umgang mit Vorurteilen und bestimmtem Argumentationen. Zum Beispiel, wenn es heißt: Warum spielst du Fußball? Dass die Mädchen lernen, sich durchzusetzen und über bestimmte Themen zu sprechen, hilft ihnen – vielleicht auch unbewusst – etwas davon im Zusammenhang mit anderen Vorurteilen anwenden können. Ich denke, allein schon weil sie eine bestimmte Andersartigkeit leben, weil sie als Mädchen Fußball spielen, sind sie für Vorurteile und Rassismus in gewisser Weise sensibilisiert.

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