Der NSU-Komplex als Auftrag für die politische Bildung
12. Februar 2017 | Diversität und Diskriminierung

Je mehr über die Morde des NSU bekannt wird, desto größer ist das Entsetzen darüber, dass so etwas mitten in Deutschland passieren kann: Dass gewaltbereite Rechtsradikale über Jahre eine Serie von Morden verüben können und die Polizei die Täter unter ihren potentiellen Opfern sucht, statt im immer dichter werdenden Netzwerk der Neonazi-Szene zu ermitteln. Der Sozialwissenschaftler Kemal Bozay hat die rassistischen Ermittlungsmethoden persönlich erlebt und beschreibt eindrücklich die Lehren aus diesem polizeilichen und auch gesellschaftlichen Versagen: Er fordert mehr politische Bildung, um eine gesellschaftliche Diskussion über Ursachen und Folgen des NSU-Komplex anzuregen.

In jüngeren Jahren habe ich mir, ausgehend von meinen eigenen Erfahrungen mit Alltagsdiskriminierung, immer wieder die Frage gestellt, warum Menschen rassistisch handeln. Als 17-Jähriger wollte ich verstehen, welchen Ursprung der Rassismus hat und wie er eigentlich im Alltag entsteht. Sicherlich fiel es mir damals schwer, den kausalen Zusammenhang zwischen Rassismus und gesellschaftlichen Ursachen zu erkennen und (kritisch) zu reflektieren. Später, Mitte der 1980er Jahre hat mich die „Faschismus-Skala“ von Theodor W. Adorno fasziniert, der sich das Ziel gesetzt hatte, über die Entstehung des Faschismus und Antisemitismus aufzuklären und auch die antidemokratischen Tendenzen in der Gesellschaft zu erfassen. So sollte ein Beitrag zur demokratischen Erziehung in der Nachkriegsgesellschaft geleistet werden.

Schwierig war seinerzeit für mich, die komplexen Facetten des Themas zu unterscheiden, doch umso interessanter waren die Dimensionen und Auswirkungen. Adornos „Studien zum autoritären Charakter“ nehmen für mich eine herausragende Rolle ein, weil sie nach den Ursachen und Bedingungen für die Empfänglichkeit von faschistischer Ideologie und Propaganda fragen, sich aber auch mit der Wechselwirkung zwischen den autoritären Persönlichkeitsmerkmalen und der Gesellschaft auseinandersetzen. So stand im Zentrum der Studie, die bereits in den 1940er Jahren im Exil in den USA entstanden ist, die psychosoziale Erforschung des potentiell faschistischen Individuums, welches für faschistische und antidemokratische Propaganda extrem anfällig ist. Im Zuge dieser Diskussion prägte Max Horkheimer, der gemeinsam mit Adorno, Herbert Marcuse und Jürgen Habermas einer der Wegbereiter der (kritischen) Frankfurter Schule war, den bekannten Satz „Wer vom Faschismus spricht, darf vom Kapitalismus nicht schweigen“.

Über den Rassismus nicht schweigen…

Wenn ich zum eigentlichen Thema meines Beitrages komme, kann ich gegenwartsbezogen mit aller Unbequemlichkeit anlehnend an diese Aussage formulieren: Wer von rechtem Terror und NSU spricht, darf vom Rassismus nicht schweigen! – Auch, wenn der Rassismus-Begriff heute anlehnend an geschichtliche Erfahrungen größtenteils diskreditiert ist oder ignoriert wird.

Der Rassismus hierzulande ist nicht über Nacht entstanden und spielt nicht erst seit der Migrations- und Flüchtlingsdebatte eine große Rolle, sondern weist in all seinen Auswirkungen (Dis-)Kontinuitäten auf, die sich auf gesellschaftspolitische Diskurse und Zusammenhänge stützen. Sicherlich ist er gegenwärtig eng an die Migrations- und Flüchtlingsdebatten gekoppelt, hat in seinen Kernelementen und Auswirkungen aber eine breitere Dimension. So konzentriert sich der Rassismus insgesamt auf die gesellschaftlichen Strukturen, Institutionen, Realitäten sowie die Alltäglichkeit und betrifft gewissermaßen uns alle.

Im soziologischen Sinne verstehen wir darunter zugleich Zugehörigkeitserfahrungen in einer rassistisch strukturierten und konnotierten Gesellschaft, die geprägt ist durch alltägliche Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrungen – welche sogar in unsere Körper eindringen. Dies zeigt sich durch die Haltung von Menschen, die wiederum durch gesellschaftliche Bilder, Stereotypen, Symbole, Darstellungen und Diskurse aus der Mitte der Gesellschaft beeinflusst werden. Zweifelsohne geht es hierbei um die rassistische Normalität im Alltag, die sich durch verschiedene Alltagspraxen und Erscheinungsbilder zeigt und einen Gewöhnungseffekt schafft. Wenn über Rassismus, faktische und symbolische Gewalt gegen Migrant_innen und Flüchtlinge gesprochen wird, gehen wir von alltäglichen, institutionalisierten und strukturellen Formen des Rassismus aus.

Durch die in den letzten Jahren verstärkt ausgelösten Migrations-, Flucht- und Islam-Debatten – die sehr kontrovers und negativ ausgetragen werden – hat sich ein neuer Rassismus herausgebildet, der sich in der Gestalt eines kulturellen Rassismus darstellt. Hierbei geht es weniger um die biologische Vererbung des Rassismus, sondern vor allem um die gesellschaftliche Reproduktion von kulturellen Differenzen, die die Konfiguration eines neuen Rassismus herausstellt und überbetont.(1) In diesem Rassismuskonstrukt geht es nicht mehr allein um die klassische Überlegenheit bestimmter Gruppen, Ethnien und Völker, sondern auch um die Gefahrenüberbetonung von neuen Migrations- und Fluchtbewegungen sowie die Unvereinbarkeit einiger Lebensweisen und Traditionen von Migrationsgruppen mit der Mehrheitsgesellschaft. Projiziert wird vor allem ein negatives Bild einer homogenen „einheimischen“ Gesellschaft, die „Fremde“ und „Andere“ delegitimiert, abwertet und ausgrenzt.

Daher ist es im gesellschaftspolitischen und medialen Diskurs eklatant, wenn der Rassismus-Begriff im Umgang mit dem rechtsterroristischen Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) tabuisiert, verschwiegen oder ausgeblendet wird. Gerade die Praxis und Auswirkungen des NSU zeigen, welche Dimension und Bedeutung der „Rassismus im System“ (2) hat.

Von einem NSU-Trio zu sprechen, täuscht darüber hinweg, wie dicht das Netzwerk rechtsextremer Gewalt ist

Auf das Konto des NSU gehen innerhalb von 14 Jahren zehn feige Mordanschläge – überwiegend an türkeistämmigen Migranten (darunter eine griechische Person und eine deutsche Polizistin), zwei Bombenanschläge in Köln, eine weitere Sprengfalle und 15 Raubüberfälle. Agiert hat der NSU mit seiner Mordserie bundesweit, und damit wäre es fatal zu behaupten, es handele sich um ein personifiziertes Trio, bestehend aus Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe.

Der NSU ist ein breites Netzwerk rechtsextremer Gewalt, das aus dem Thüringer Heimatschutz hervorgegangen ist, aber in den darauffolgenden Jahren bundesweit mit rechtsextremen Vereinigungen und Bewegungen vernetzt war. Hinzu kommt auch die „unheilige Allianz“ zwischen Rechtsextremisten und Verfassungsschutz.

Der rechte Terror in Deutschland ist keineswegs über Nacht entstanden oder erst mit dem NSU aufgeblüht, sondern zeigt in der Nachkriegszeit eine fortlaufende Kontinuität, die verschiedenen Formen angenommen hat. Er hat sich seit der Gründung der Bundesrepublik permanent durch geplante und durchgeführte Sprengstoffanschläge, Brandanschläge, Morde und/oder andere Formen von rechtsterroristischer Gewalt verwirklicht. Zu Beginn der Nachkriegszeit blieben die Aktivitäten des Rechtsterrorismus auf Bewaffnungen, paramilitärische Ausbildung, Gründung und Aufbau von Strukturen, Vernetzung in Jugendorganisationen (wie beispielsweise Bund Deutscher Jugend, Bund Heimattreuer Jugend) beschränkt.

Seit Ende der 1960er Jahre ist in der Bundesrepublik ein permanenter gewaltbereiter neonazistische Untergrund entstanden. Es bildeten sich militante rechtsextreme Organisationen, wie beispielsweise die Deutschen Aktionsgruppen um Manfred Roeder, die NSDAP-Aufbauorganisationen, die Aktionsfront Nationaler Sozialisten / Nationale Aktivisten um Michael Kühnen, die Wehrsportgruppe Hoffmann und andere Gruppierungen. Ende der 1970er Jahre militarisierte sich die rechtsextreme Szene, und in den 1970er und 1980er Jahren wurden zahlreiche rechtsterroristische Anschläge verübt. Im August 1980 legte die rechtsextreme Organisation Deutsche Aktionsgruppen in Hamburg einen Brand, bei dem zwei Migranten getötet wurden. In den 1980er Jahren folgten mehrere Mordanschläge. Den Höhepunkt erreichte der rechtsextreme Terror damals beim Oktoberfestattentat am 26. Oktober 1980 in München, bei dem 13 Menschen getötet und 211 Menschen verletzt wurden.

In den 1990er Jahren zeigten sich rechtsterroristische Aktivitäten vor allem in Form von Brandanschlägen auf Wohnungen von Migrant_innen und Flüchtlingssammelunterkünfte. Den Höhepunkt bildeten die Brandanschläge in Hoyerswerda, Rostock, Mölln und Solingen, wobei mehreren Menschen getötet wurden. Mit der Wiedervereinigung hat der rechtsextreme Terror weiter zugenommen. Neben dem NSU waren auch die Terrornetzwerke Blood & Honour, Hammerskins und Ku Klux Klan sowie mehrere andere militante Neonazi-Organisationen aktiv. (3) Auch nach der Selbst-Enttarnung des NSU nahmen die rechtsextremen Aktivitäten insbesondere seit 2014 weiter zu, so dass offizielle Stellen allein 2016 mehr als 789 rechtsextreme Anschläge insbesondere auf Flüchtlingsheime meldeten. Anfang 2016 hat eine rechtsextreme Gruppe in Freital die Bürgerwehr FTL/360 gegründet, die für zahlreiche Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte und Wohnhäuser verantwortlich ist.

Im Mai 2013 sprayten unbekannte Täter in Düren an die Wand einer islamischen Gemeinde „NSU lebt und ihr werdet die nächsten Opfer sein“. Dieser Vorfall zeigt, dass neonazistische Organisationen und rechte Terrorgruppen weiterhin aktiv sind. Tatsächlich kann niemand mit Sicherheit sagen, ob diese Schmierereien lediglich neonazistische Vernichtungsphantasien widerspiegeln oder ob der NSU in einer anderen Gestalt aus dem Untergrund weiter agiert. (4)

Meine ungemütliche Begegnung mit dem NSU-Komplex

Am 9. Juni 2004 detonierte mitten auf der Keupstraße in Köln-Mülheim, einer größtenteils türkisch-kurdischen Geschäftsstraße, eine ferngezündete Nagelbombe. 22 Menschen wurden verletzt, darunter vier schwer. Noch am gleichen Tag schloss der damalige Innenminister Otto Schily einen rechtsextremen Hintergrund aus. Erst im November 2011 konnte der Anschlag der rechtsterroristischen Gruppe NSU zugeordnet werden.

In der Zwischenzeit wurden mehrere Geschäftsleute, darunter auch der Besitzer des vollständig verwüsteten Friseurladens, durch die Sicherheitsbehörden kriminalisiert. Opfer wurden zu Tätern gemacht. Diese Diffamierung zeigte sich auch in der öffentlichen Darstellung. So kommentierte der Kölner Stadtanzeiger unmittelbar nach dem Anschlag in einer Kolumne unter dem Titel „Anwohner rätseln über die Hintergründe“: „Mülheim ist immer noch ein sozialer Brennpunkt. (…) Allerdings hat auch die Polizei die Keupstraße auf dem Stadtplan dick unterstrichen: illegale Geschäfte um Glücksspiel, Schutzgeld, Erpressungen, Drogen (…), Machtkämpfe zwischen türkischen und kurdischen Banden, Albaner, Rotlicht-Szene (…). Eine Welt, in der die Polizei aufgrund der Kultur- und Sprachbarrieren keinen Einblick genießt.“ (Kölner Stadtanzeiger, 10.6.2004). Diese Kolumne verdeutlicht, wie der Rassismus in die Mitte der Gesellschaft gelangt und Skandalisierungen reproduziert. Die unsachgemäße Beschreibung operiert mit Bewertungen und Deutungen, so dass hier eine Konfiguration von Rassismus und Ethnozentrismus am Beispiel von Zuschreibungen entsteht. Interessant ist dabei auch der Hinweis, dass die Polizei gerade aufgrund von kulturellen und sprachlichen Barrieren keinen Einblick in die Szene habe.

Verstärkt wurde dieser Effekt, als der Staatsschutz im Jahre 2005 im Rahmen einer Rasterfahndung Menschen, insbesondere mit Migrationshintergrund, die in der Nähe der Keupstraße gelebt haben, zum Verhör lud. Ein Grund für die Vorladung wurde nicht genannt. Auch ich erhielt eine Einladung zur Polizeidienststelle in Köln-Kalk. Interessant war, dass diese Einladung nicht postalisch verschickt wurde, sondern persönlich in den Briefkasten eingeworfen wurde. Ich kann mich daran erinnern, dass in dem Schreiben kein Einladungsgrund genannt wurde. Daraufhin bin ich zur Polizeidienststelle gefahren und habe nach dem angeführten Beamten gefragt. Nach ca. 20 Minuten kam ein Polizeibeamter in zivil, der einen Ordner mit Fotos und Dokumenten in der Hand hielt. Ohne sich vorzustellen und mich über den Grund der Einladung zu informieren, zeigte er mir die Fotos und ich verstand zunächst nicht, was er damit bezweckte. Als ich ihn auf freundliche Weise fragte, antwortete er mir, dass ich im Rahmen der Rasterfahndung zum Bombenanschlag auf der Keupstraße eingeladen wurde. Zusätzlich bekam ich dann einen Fragebogen in die Hand gedrückt, den ich doch ausfüllen sollte. Darin standen Fragen wie: Haben Sie ein Fahrrad? Haben Sie eine Garage? Können Sie oder Menschen aus ihrem Umfeld Bomben bauen? etc. In diesem Moment kochte in mir Wut und ich erklärte dem Polizeibeamten, dass er in die falsche Richtung ermittele. Schließlich sagte ich ihm, dass ich diesen Fragebogen nicht ausfüllen würde und er mir diese Unterlagen gerne postalisch schicken sollte, damit ich sie meinem Anwalt vorlegen könne. Alle müssten ihn ausfüllen, antwortete er. Ich merkte, dass er etwas verärgert war. Daraufhin verabschiedete ich mich und verließ die Polizeidienststelle.

So machte ich im Rahmen der Rasterfahndung meine Erfahrung mit den Auswirkungen des NSU. Später erfuhr ich von mehreren Bekannten, die in Mülheim wohnten, dass auch sie im Rahmen der Rasterfahndung eingeladen und verhört wurden. Interessanterweise waren es größtenteils türkeistämmige Migrant_innen. Ein weiterer Beleg für den heimlichen „Rassismus im System“.

Wie Opfer zu Tätern gemacht werden

Mehr als zehn Jahre wurden die Opfer des NSU als Täter stigmatisiert und kriminalisiert. Druck auf Familien, Verwandte, mehrere Razzien in Kaffeehäusern und Geschäften blieben ergebnislos, doch die Ermittler ließen nicht nach und setzten mit verschiedenen Mitteln immer wieder die türkischen und kurdischen Anwohner_innen und insbesondere gezielt die Geschäftsleute der Keupstraße unter Druck. Wenn man heute auf der Keupstraße jemanden auf den Nagelbombenanschlag anspricht, will niemand mehr darüber reden. Es wird deutlich, dass die Menschen, die den Terrorakt damals erlebt haben und mit dessen Folgen bis heute leben müssen, enttäuscht und verunsichert sind. Die Verunsicherung kommt durch die jahrelange Unterstellung, sie wüssten, wer die Täter seien. Denn die Sicherheitsbehörden, die Medien und die Politik waren sich von Anfang an einig, dass es sich hier um einen Konflikt im türkischen bzw. kurdischen Milieu handele. So wurden Familien, Geschäftsleute und das persönliche Umfeld der vom Anschlag Betroffenen über Jahre hinweg überwacht und unter Druck gesetzt. Durch diesen völlig unbegründeten Verdacht gegen die Opfer wurden der gesellschaftliche Kontext und die rassistischen Hintergründe ausgeblendet und die persönliche Existenz zahlreicher Menschen zerstört. Kurzum: Opfer wurden zu Tätern gemacht! Hinzukommt die Furcht vor einem erneuten Bomben- oder Brandanschlag und die Enttäuschung über das Versagen der Verfolgungsbehörden, der Politik und der Medien.

Der Rassismus der Sicherheitsbehörden und der Öffentlichkeit verhinderte nach Meinung vieler Menschen auf der Keupstraße die Aufklärung dieses Nagelbombenanschlags: Während Hinweise auf einen rassistischen Hintergrund von Anfang an ausgeklammert und vernachlässigt wurden, erschien die These, migrantische Gewerbetreibende seien in „Ausländer-Kriminalität“ verwickelt, den Sicherheitsbehörden und auch der Politik unmittelbar einleuchtend und erübrigte weiteres transparentes und intensives Ermitteln. Die Enttäuschung gilt hier auch der nachlässigen Ermittlungspraxis der Sicherheitsbehörden. Die Behörden haben es nach dem Anschlag versäumt, wichtige Augenzeugen anzuhören, Zusammenhänge zu anderen Morden und Anschlägen zu suchen und transparent zu ermitteln.

So berichtete mir beispielsweise Ali Demir, Ehrenvorsitzender der IG Keupstraße: „Ich hörte an diesem Tag einen lauten Knall, und Glassplitter flogen durch das Schaufenster meines Büros. Ich warf mich auf den Boden und hörte draußen Schreie. Als ich nach einigen Minuten rausging, sah ich zwei bewaffnete Männer in Zivil. Als ich sie ansprach, wollten sie zuerst nicht mit mir sprechen. Doch als ich ihnen sagte, dass ich Vorsitzender der IG Keupstraße bin, erwiderten sie sehr verärgert: ‚Sehen Sie nicht, es ist hier eine Nagelbombe explodiert’.“ Interessant ist, dass diese beiden Zivilpolizisten, die wenige Minuten nach dem Nagelbombenanschlag vor Ort waren und niemals offiziell verhört wurden, von Anfang an wussten, dass es sich hierbei um einen Nagelbombenanschlag handelte. Ali Demir wurde nach dem Vorfall niemals durch die Behörden als Augenzeuge verhört. Als er dann einige Jahre später mehrere Drohbriefe mit rassistischem und neonazistischem Inhalt erhielt, konnte ihm die Polizei nicht weiterhelfen. In einigen Drohbriefen ging es schließlich auch um ausgeschnittene Zeitungsartikel und -kolumnen zu den angeblichen „Döner-Morden“.

Solche Erfahrungen haben zweifelsohne das Vertrauen der Menschen in die Behörden zerstört. Dazu kommt, dass in den Medien negativ besetzte Begriffe wie „Döner-Morde“ verbreitet wurden und auch die Sonderkommission ausgerechnet mit dem Namen „Bosporus“ aufgetreten ist. Die Sicherheitsbehörden und politischen Eliten schlossen rassistische Hintergründe sehr früh aus und ethnisierten stattdessen die gesamten Ermittlungen. Die am Eingang der Keupstraße geklebten Wahlplakaten der NPD und DVU, die anlässlich der Europawahlen im Mai 2004 angebracht worden waren, wurden von den Ermittlungsbehörden und Medien nicht beachtet. Dabei hatte es bis dato auf der Keupstraße niemals offizielle Plakate von rechtsextremen und -populistischen Parteien gegeben. Auch dem Hinweis eines in der Straßenbahn gefundenen Flugblattes, in dem das rassistische Motiv für den Bombenanschlag auf der Keupstraße genannt wurde, ignorierten die Behörden.

NSU und der „tiefe Staat“

Desto größer der NSU-Komplex wird, desto stärker wird auch die Gefahr für die Demokratie. Viele Fragen bleiben unbeantwortet. Fakt ist, dass der NSU-Komplex nicht Vergangenheit ist, sondern weiterhin Teil der gesellschaftlichen Realität bleibt. Die Kehrseite zeigt, dass das Versagen von Innenministerium, Verfassungsschutz und Polizei negiert und die Aufklärung des NSU-Komplexes verzögert wird. Hinzu kommt, dass die Regierung anstelle einer Aufklärung der Anschläge auf eine engere Zusammenarbeit von Polizei und Verfassungsschutz als Lehre aus dem NSU-Komplex drängt. Dabei werden die Ursachen und Formen des „Rassismus im System“ ausgeblendet.

Dabei hat sich gezeigt, dass nicht zuletzt auch das V-Leute-System der Geheimdienste zur Verbreitung neonazistischer Bewegungen beigetragen hat und weiterhin beiträgt. Demzufolge rekrutieren Sicherheitsbehörden die V-Leute gezielt aus rechtsextremen Kreisen. Aus dem Jahr 1997 existiert eine Liste mit über 70 Namen von Neonazis, die auf eine Zusammenarbeit angesprochen werden sollten. Vor einigen Namen befanden sich auch zwei Häkchen, darunter Uwe Mundlos, die beiden im NSU-Prozess Angeklagten Ralf Wohlleben und Holger Gerlach sowie André Kapke. Dies hat zur Folge, dass führende Neonazis als V-Leute vor Strafverfolgung unbehelligt bleiben. Dieses V-Leute-System der Geheimdienste hat nicht zuletzt mit dazu beigetragen, dass aus einer überschaubaren Neonaziszene der frühen 1990er Jahre die neonazistische Bewegung von heute erwachsen konnte.

Die beiden Untersuchungsausschüsse im Bundestag, aber auch die Landtags-Untersuchungsausschüsse zum NSU-Komplex tappen weitgehend im Dunklen. Zwar bilden sie neben dem NSU-Prozess vor dem Oberlandesgericht in München ein wichtiges politisches Forum, doch die bisherigen Ergebnisse sind sehr dünn. Damit stellen sich viele weitere Fragen, die im NSU-Prozess am OLG München nicht geklärt werden können. Je tiefer man in den NSU-Komplex eindringt, desto deutlichen zeigen sich auch die Verflechtungen zum „tiefen Staat“ in Deutschland. Im Zuge der NSU-Thematik hat sich der Begriff „Tiefer Staat“ immer mehr in der politischen Diskussion verankert. Der Begriff stammt ursprünglich aus dem türkischen Kontext und beschreibt die tiefe konspirative Verflechtung zwischen Staat, Geheimdiensten, Militär, Politik, Justiz, Mafia und rechtsextremen Organisationen.

Die Opfer, Familienmitglieder, Angehörigen und Verletzten des NSU-Terrors haben das Recht auf lückenlose Klärung und Beantwortung all der Fragen. Daher benötigen sie ein Forum und gesellschaftliche Unterstützung für ihr Anliegen. Die bisherige Praxis zeigt, dass der NSU-Komplex nicht nur das Versagen der Sicherheitsbehörden spiegelt. Er steht zugleich für das Scheitern der bundesdeutschen Integrationspolitik.

Herausforderung für die politische Bildung

Die Auseinandersetzung mit dem Themenfeld „Rechtsextremer Terror und NSU“ benötigt gegenwärtig bildungspolitische Gegenstrategien. Handlungsmöglichkeiten im Alltag (vor allem in der Jugendarbeit) müssen entwickelt werden. Allerdings wird auf die Bedeutung politischer Bildung gegenwärtig immer nur dann verwiesen, wenn „Gefahr und Gefährdung der Demokratie“ besteht. Dann kommt der politischen Bildung oft die Rolle der „Feuerwehr“ zu. Wenn die politische Bildung ihrer Bedeutung aber wirklich gerecht werden möchte, sind Kontinuität, Stetigkeit, vor allem aber die Entwicklung und Ausarbeitung differenzierter Ansätze notwendig.

Andreas Zick und Anna Klein (2014) haben sich in ihrer Studie „Fragile Mitte – feindselige Zustände“ mit den demokratiefeindlichen Einstellungen in Deutschland auseinandergesetzt und sie haben fünf „Bruchstellen“ hervorgehoben: „1. Rechtsextreme Orientierungen und Einstellungen zum Rechtsextremismus; 2. Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit; 3. Distanzen zur Demokratie; 4. Kalte ökonomische Haltungen zum Sozialleben; 5. Feindliche Gesinnungen gegen die europäische Einheit und andere Länder“(5). Nicht jede dieser „Bruchstellen“ muss für sich genommen per se als rechtsextrem betrachtet werden, doch jede dieser Einstellungen kann unter bestimmten gesellschaftlichen Umständen zu einem Anknüpfungspunkt für Rechtsextremismus werden. Sie bilden also einen möglichen Rahmen für antidemokratische Denkweisen. Die politische Bildung hat gerade in diesem Prozess die Schlüsselaufgabe, diese Zusammenhänge zu analysieren und durch vielfältige Bildungsangebote mit und für Pädagog_innen, Sozialarbeiter_innen, Erzieher_innen, Multiplikator_innen u. a. deutlich zu machen. Ferner muss daraus ein Handlungsansatz für eine demokratische Zivilgesellschaft entwickelt werden.

Buch Bozay

Dieser Text ist ein leicht veränderter Auszug aus dem Buch: „Die haben gedacht, wir waren das – MigrantInnen über rechten Terror und Rassismus“. Papyrossa Verlag, 2016.

Da die politische Bildung im gesellschaftlichen Bildungsprozess einen wichtigen Platz einnimmt, kann sie gesellschaftspolitische Akteur_innen anregen, einen aktiven Beitrag zur Abwehr von antidemokratischen und rechtsextremen Tendenzen zu leisten. So sollen gesellschaftlichen Akteur_innen und Multiplikator_innen geschult und befähigt werden, über die gesellschaftspolitischen Auswirkungen des „rechtsextremen Terrors“ in Deutschland nachzudenken, das gewaltbereite rechtsextreme Denken und Handeln des NSU in all seinen Facetten zu erkennen und daraus Möglichkeiten des zivilgesellschaftlichen Handelns zu entwickeln.

Politische Bildung basiert auf Freiwilligkeit und die Motivierung der Teilnehmer_innen ist daher sehr wichtig. Dies setzt den Rückgriff auf besondere Methoden voraus, vor allem aber kommt es auf die Auswahl der Themen an. Sie müssen gesellschaftlich relevant und Aktuell sein und die Teilnehmer_innen müssen sie auch für ihr eigenen Leben als wichtig einschätzen. Die politische Bildungs- und Aufklärungsarbeit sollte sich aber nicht allein darauf konzentrieren, Betroffene, also Jugendliche aus den Milieus des rechtsextremen Terrors, sondern auch Lehrer_innen, Pädagog_innen, Sozialarbeiter_innen, Erzieher_innen u. a., die im Alltag mit diesem Problem konfrontiert sind, anzusprechen.

Zugleich stellt sich die Frage, wie in Schulen oder pädagogischen Einrichtungen mit rechtsextremen Einstellungen, Kollektivsymbolen und Organisationsformen umgegangen werden soll. Sind sie doch oft Konflikte von sozialer und politischer Natur. Schule kann zwar politische Bildungs- und Präventionsarbeit leisten, doch die sozialen, politischen und wirtschaftlichen Probleme können nicht im Klassenzimmer, in der Bildungseinrichtung, im Jugendzentrum und ähnlichen Orten gelöst werden. Die Schule sollte daher ein Verständnis für globale Zusammenhänge, für soziale und ökonomische Hintergründe eines Problems schaffen, aber sie kann keine politischen Lösungen ersetzen. Deshalb müssen antirassistische Konzepte in ihren Inhalten zwar jede mögliche Form von Rechtsextremismus ablehnen, aber die Jugendlichen dabei nicht vorschnell etikettieren. Viele Jugendliche sind sich nicht bewusst, welche ideologischen Konstellationen sich hinter diesen Bewegungen und Organisationsformen verbergen. Meist sind es Desintegrations- und Ausgrenzungsmechanismen, die sie zur Suche nach Gemeinschaften drängen, in der ihre Identitäts- und Zugehörigkeitsdiffusion scheinbar überwunden wird. Aber auch familiäre und gruppenspezifische Motive und „Bruchstellen“ führen dazu, dass rechtsextreme Bewegungen als Anlaufstelle fungieren können.

Klar ist aber: Eine Verbesserung der Lebenswelten und -einstellungen Jugendlicher aus unterschiedlichen Milieus kann nicht von den  Bildungs- und Freizeiteinrichtungen (Schule, Jugend/-sozialarbeit u. ä.) allein bewältigt werden, sondern ist eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung und erfordert gemeinsame Anstrengungen.

Widerstand tut not!

Als in den 1990er Jahren bundesweit rechtsextreme und rassistische Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte und auf Wohnungen von Migrant_innen verübt wurden, entfachte dies im gesamten Bundesgebiet eine Bewegung gegen Fremdenfeindlichkeit und Hass. Bundesweit wurden Lichterketten initiiert und es entwickelte sich eine breite Solidaritätsbewegung, die durch verschiedene gesellschaftliche Gruppen und Bewegungen ging.

Nach Offenlegung der NSU-Morde hat es zwar eine mediale und gesellschaftliche Empörung gegeben, doch der gesellschaftliche Widerstand ist sehr begrenzt geblieben. Es haben sich in zahlreichen Städten antirassistische Initiativen und Bewegungen gebildet, die sich vor allem auf die Solidaritätsarbeit mit den Opfern konzentrierten. Doch der gesamtgesellschaftliche Protest und Widerstand wie in den 1990er Jahren blieb aus. Bei vielen Migrant_innen – insbesondere unter türkischen und kurdischen Zuwanderern – hat der NSU-Komplex einen Vertrauensverlust ausgelöst. Sie hatten erwartet, dass sich auf politischer Ebene etwas bewegt; dass sich eine Politik der Anerkennung und Akzeptanz entwickelt und die gesellschaftliche Partizipation von Menschen mit Migrationshintergrund gefördert wird. Erwartet hatten sie, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel, Wort hält und so wie in ihrer Rede 2012 versprochen, die NSU-Morde vollständig aufgeklärt werden. Doch es kam nicht zu einer verstärkten Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus, vielmehr ist bundesweit eine neue rechtspopulistische und nationalistische Stimmung entstanden, die wiederum einen Nährboden für einen neuen Rechtsextremismus bietet. Zielscheibe sind erneut Flüchtlinge und Migrant_innen.

Die „Mitte“-Studie der Arbeitsgruppe der Universität Leipzig, die seit 2002 alle zwei Jahre die rassistischen, rechtsextremen und autoritären Einstellungen in Deutschland untersucht, hat am 15. Juni 2016 ermittelt, dass es zwar keine Zunahme von rechtsextremen Einstellungen insgesamt gibt, aber im Vergleich zur Studie 2014 mehr Befragte Gewalt als Mittel der Interessensdurchsetzung und damit das Vorgehen rechtsextremer Gruppen verteidigen. (6) Die Radikalisierung zeigt sich auch bei der Einstellung zu bestimmten gesellschaftlichen Gruppen, beispielsweise hat die Ablehnung von Muslimen, Sinti und Roma, Asylsuchenden und Homosexuellen in den letzten zwei Jahren deutlich zugenommen: 49,6 Prozent der Befragten sagten zum Beispiel, Sinti und Roma sollten aus den Innenstädten verbannt werden. 2014 waren 47,1 Prozent dieser Meinung. 40,1 Prozent erklärten, es sei ekelhaft, wenn sich Homosexuelle in der Öffentlichkeit küssten (2011: 25,3 Prozent). Und 50 Prozent gaben an, sich »durch die vielen Muslime manchmal wie ein Fremder im eigenen Land« zu fühlen. 2014 waren dies noch 43 Prozent.

Viele politisch orientierte Migrationsverbände weisen darauf hin, wie deutlich sich am Beispiel des NSU-Komplexes zeigt, wie brisant und heikel es ist, institutionellen Rassismus, strukturelle Diskriminierung und Benachteiligung zu benennen. Dabei liegt hierin die Voraussetzung für die wirksame Bekämpfung von Rassismus und Diskriminierung. Die Bewältigung des NSU-Komplex erfordert also die Herausbildung einer neuen politischen Öffentlichkeit, die Migrant_innen, ihre Organisationen sowie andere (kritische) Akteure der Einwanderungsgesellschaft miteinbezieht. Daher setzen viele Hoffnung auf das beginnende Frühjahr: Für Mai 2017 ist das bundesweite NSU-Tribunal geplant und in der Keupstraße soll auch wieder das Birlikte-Festival stattfinden. Es gibt also durchaus geeignete Räume für diese dringend notwendige gesellschaftliche und politische Auseinandersetzung.


Anmerkungen

(1) Étienne Balibar, Immanuel Wallerstein (2014): Rasse, Klasse, Nation. Ambivalente Identitäten, 3. Auflage. Hamburg: Argument Verlag.

(2) Radtke, Frank-Olaf (2015): Rassismus im System. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, 2/2015, S. 17-20.

(3) Vgl. Hajo Funke (2015): Staatsaffäre NSU. Eine offene Untersuchung. Münster: Kontur Verlag.

(4) Vgl. Jürgen Roth (2016): Der Tiefe Staat. Die Unterwanderung der Demokratie durch Geheimdienste, politische Komplizen und den rechten Mob. München: Heyne Verlag.

(5) Andreas Zick, Anna Klein (2014). Fragile Mitte – Feindselige Zustände. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2014. Bonn: FES, S. 139.

(6) Oliver Decker, Johannes Kiess, Elmar Brähler (2016): Die enthemmte Mitte. Autoritäre und rechtsextreme Einstellung in Deutschland. Gießen: Psychosozial Verlag.

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